Ich stand auf.
«Am Samstag war ich in Kempton auf dem Rennplatz«, sagte ich.
Sie rührte sich nicht.
«Ich habe mein Versprechen gehalten.«
Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
«Es tut mir leid«, sagte ich hilflos.
«Ja. Gute Nacht, Mr. Halley. Gute Nacht. «Ich ging.
Kapitel 11
Radnor beraumte am nächsten Vormittag eine Besprechung über Seabury an, an der er selbst, Dolly, Chico und ich teilnahmen. Das rührte in erster Linie davon her, daß es mir am vergangenen Nachmittag doch noch gelungen war, Lord Hagbourne das Zugeständnis abzuringen, für kommenden Donnerstag, Freitag und Samstag durchgehend eine Wache für den Rennplatz einzusetzen.
Die Erdbewegungen mit den Bulldozern waren ohne Schwierigkeiten vonstatten gegangen. Ein Anruf in Seabury hatte ergeben, daß die Lohe mit Lastwagen angefahren und ausgebreitet wurde. Wenn nicht in letzter Sekunde etwas dazwischenkam, war die Durchführung der Rennen gesichert. Selbst das Wetter schien mitzuspielen. Das Barometer stieg; die Voraussage sprach von trocken, kalt und sonnig.
Dolly schlug reguläre Streifengänge vor, und Radnor neigte zu ihrer Meinung. Chico und ich hatten andere Vorstellungen.
«Wenn jemand die Bahn beschädigen will, wird er von einer Streife abgeschreckt«, meinte Dolly.»Genauso ist es, wenn sich die Anschläge auf die Tribünen richten.«
Radnor nickte.
«Das ist der sicherste Weg zu garantieren, daß die Rennen stattfinden. Wir brauchen wohl mindestens vier Mann.«
«Ich gebe zu, daß wir heute nacht, morgen und Freitag nacht eine Streife brauchen, für alle Fälle«, sagte ich.»Aber morgen, wenn der Platz mehr oder weniger verlassen ist. Für uns kommt es doch darauf an, sie dabei zu schnappen, und nicht, sie abzuschrecken. Bis jetzt haben wir noch kein Beweismaterial, das vor Gericht bestehen könnte. Wenn wir sie sozusagen mitten bei der Sabotage erwischen würden, wären wir viel besser dran.«
«Stimmt«, sagte Chico.»Verstecken und dann zupacken. Viel besser, als sie zu verjagen.«
«Ich erinnere mich dunkel«, sagte Dolly grinsend,»daß bei eurer letzten Falle die Maus auf den Käse geschossen hat.«
«Du lieber Gott, Dolly, mich trifft der Schlag«, sagte Chico lachend.
Selbst Radnor mußte lachen.»Aber jetzt im Ernst«, sagte er.
«Ich wüßte nicht, wie ihr das machen wollt. Ein Rennplatz ist viel zu groß. Wenn ihr euch versteckt, seht ihr nur einen kleinen Teil davon. Und wenn ihr euch zeigt, ist die Wirkung dieselbe wie bei einer Streife. Ich sehe keine Möglichkeit.«
«Hm«, sagte ich.»Aber es gibt immer noch etwas, was ich besser kann als jeder andere hier.«
«Und was wäre das?«fragte Chico angriffslustig.
«Reiten.«
«Oh«, sagte Chico.»Das stimmt allerdings.«
«Ein Pferd«, meinte Radnor nachdenklich.»Das ist eine Idee. Ein Reiter sieht auf einem Rennplatz nicht verdächtig aus. Und beweglich ist er auch. Woher wollen Sie das Pferd nehmen?«
«Ich könnte Mark Whitneys Privatpferd leihen. Er ist in der Nähe von Seabury zu Hause.«
«Aber können Sie noch.?«begann Dolly und verstummte plötzlich.»Ihr braucht mich gar nicht so anzufunkeln. Ich kann nicht einmal mit zwei Händen reiten.«
«Ein gewisser Gregory Philips mußte sich ziemlich weit oben den Arm amputieren lassen und ritt noch jahrelang bei Jagdrennen mit«, sagte ich.
«Genug gesagt«, erwiderte Dolly.»Und Chico?«
«Er kann Reithosen von mir haben, zur Tarnung. Und lässig am Geländer lehnen.«
«Sie mich auch«, sagte Chico liebenswürdig.
«Wollen wir es so machen, Sid?«fragte Radnor.
Ich nickte.
«Sehen Sie es sich mal von der schlimmsten Seite her an: Wir besitzen kein Material gegen Kraye, das bestehen könnte. Möglicherweise finden wir Smith, den Lastwagenfahrer, nicht, und selbst wenn es uns gelingt, hat er alles zu verlieren, wenn er den Mund aufmacht, und nichts zu gewinnen. Als vor einem Jahr die Stallungen abbrannten, konnten wir nicht nachweisen, daß das kein Unfall war. Ein Zigarettenstummel zum Beispiel. Die Stallburschen rauchen immer wieder, trotz des Verbotes. Der sogenannte Abzugskanal, der eingebrochen ist — wir wissen nicht, ob er einen Tag, eine Woche oder sechs Wochen vorher gegraben wurde. Der Brief, den William Brinton an seinen Bruder schrieb, ist nur eine Fassung aus dem Gedächtnis, als Beweis völlig unbrauchbar. Er hat uns lediglich davon überzeugt, daß Kraye zu allem fähig ist. Wir können ihn Lord Hagbourne nicht zeigen, weil ich ihn unter dem Siegel der Verschwiegenheit bekommen habe und er immer noch nicht hundertprozentig davon überzeugt ist, daß Kraye mehr getan hat als Aktien aufgekauft. So, wie ich die Sache sehe, müssen wir dem Gegner eine Gelegenheit geben, die nächste Aktion zu starten.«
«Sie glauben, daß er es tun wird?«
«Das ist doch sehr wahrscheinlich, nicht? Bis Februar sind in Seabury keine Rennen mehr. Das sind drei Monate. Und wenn ich richtig verstanden habe, eilt es Kraye wegen der politischen Lage ganz besonders. Er möchte doch sicher vermeiden, Fünfzigtausend für den Kauf von Seabury auszugeben, um dann festzustellen, daß über Nacht das Bauland verstaatlicht worden ist. An seiner Stelle würde ich schnell zum Zug kommen und an meine Bauherren verkaufen wollen. Den Fotos der Aktienverkaufsorders zufolge besitzt er jetzt schon dreiundzwanzig Prozent des Aktienkapitals. Das dürfte bei einer Abstimmung fast sicher reichen, den Verkauf durchzusetzen. Aber er ist habgierig. Er wird noch mehr haben wollen. Allerdings nur, wenn es schnell geht. Bis Februar zu warten, bedeutet ein Risiko für ihn. Ich bin der festen Meinung, daß er diese Woche wieder etwas unternehmen wird, wenn er eine Chance dazu sieht.«
«Ein Risiko ist es«, meinte Dolly.»Wenn nun etwas Schreckliches passiert und wir es weder verhindern noch die Täter fassen können?«
Sie diskutierten ein paar Minuten miteinander, aber schließlich sah mich Radnor an und sagte:»Sid?«
«Es ist Ihr Unternehmen«, sagte ich ernst,»also Ihr Risiko.«
«Aber Ihr Fall! Immer noch Ihr Fall. Sie müssen entscheiden.«
Ich verstand ihn nicht. Daß er mir bisher freie Hand gegeben hatte, war nicht allzu folgenschwer gewesen, aber daß er mir eine derartige Entscheidung überließ, hätte ich nie erwartet.
Immerhin.
«Chico und ich übernehmen das«, sagte ich.»Wir fahren heute abend los und bleiben morgen den ganzen Tag. Ich bin dafür, daß wir nicht einmal Captain Oxon verständigen, keinesfalls den Vorarbeiter Ted Wilkins oder seine Untergebenen. Wir rücken von der anderen Seite her an, und ich borge mir das Pferd, damit ich beweglich bin. Dolly kann für morgen nacht mit Oxon den Einsatz offizieller Streifen vereinbaren. Er soll ihnen ein heizbares Zimmer zur Verfügung stellen. Die Zentralheizung müßte funktionieren.«
«Und Freitag und Samstag?«fragte Radnor.
«Volle Bewachung, würde ich sagen. So viel Lord Hagbourne zuläßt. Im Gedränge kann man nicht Katz und Maus spielen.«
«In Ordnung«, sagte er entschieden.»Abgemacht!«
Als Dolly, Chico und ich an der Tür angekommen waren, sagte er:»Sid, könnte ich diese Fotos noch einmal sehen? Schicken Sie Jones damit herunter, wenn Sie sie nicht mehr brauchen.«
«Klar«, sagte ich.»Ich habe sie so studiert, daß ich sie schon auswendig kann. Ihnen fällt sicher gleich etwas auf, das mir entgangen ist.«
«Das geht oft so«, sagte er nickend.
Wir kehrten in unsere Abteilung zurück. Über die Vermittlung ließ ich Jones aufspüren, der in der Vermißtenabteilung war. Während er herunterkam, sah ich noch einmal den Stapel Fotos durch. Die Aktienverkaufsbescheinigungen, die Liste mit der Aufstellung der Bankkonten, die Briefe von Bolt, die Zehnpfundnoten und die beiden Blätter mit Daten, Initialen und Zahlen, die ganz zuunterst in dem Aktenköfferchen gelegen hatten. Von Anfang an war klar gewesen, daß es sich dabei um Listen über Ausgaben oder Einnahmen handelte. Inzwischen war ich aber überzeugt davon, daß das erstere in Frage kam. Ein gewisser W. L. B. hatte über ein Jahr lang regelmäßig jeden Monat fünfzig Pfund erhalten, und vier Tage nach dem letzten Datum mit W. L. B. hatte William Leslie Brinton, der Rennplatzadministrator in Dunstable, den schnellsten Ausweg gewählt — sechshundert Pfund und eine Drohung: der Preis für einen Menschen.