Da wir nichts Besseres zu tun hatten, sahen wir ihm zu, wie er zur anderen Seite ging, unter dem Geländer hindurchschlüpfte und weiterschlenderte, bis er hinter einer Hürde stand. Wir konnten nur noch Kopf und Schultern sehen.
Chico meinte, daß er seinen Tribut an die Natur ja auch in den Toiletten hätte entrichten können. Ich gähnte lächelnd. Der Mann blieb hinter der Hürde stehen.
«Was treibt er denn da?«sagte Chico nach fünf Minuten.
«Gar nichts«, sagte ich durchs Glas starrend.»Er steht nur da und schaut in unsere Richtung.«
«Glauben Sie, daß er uns entdeckt hat?«
«Nein, unmöglich, er hat kein Fernglas, und wir sitzen im Gebüsch.«
Weitere fünf Minuten vergingen.
«Er muß doch irgend etwas tun«, sagte Chico.
«Eben nicht«, sagte ich.
Chico nahm mir das Glas weg.
«Durch die Sonne sieht man überhaupt nichts«, beschwerte er sich.»Wir hätten uns auf der anderen Seite aufstellen sollen.«
«Vielleicht auf dem Parkplatz?«sagte ich ironisch.»Die Straße zu den Stallungen und dem Haupttor läuft doch dort entlang. Da gibt es überhaupt keine Deckung.«
«Er hat eine Flagge«, sagte Chico plötzlich.»Zwei Flaggen. In jeder Hand eine, links weiß, rechts orange. Er winkt abwechselnd damit. Wahrscheinlich irgendein Halbverrückter, der übt, wie man Krankenwagen und Tierarzt herbeiruft.«
Er war enttäuscht.
Ich beobachtete, wie die Flaggen geschwenkt wurden, zuerst weiß, dann orange, dann weiß, dann orange, mit Pausen von ein oder zwei Sekunden dazwischen. Verstehbare Signale schienen das nicht zu sein. Es handelte sich, wie Chico schon gesagt hatte, ganz einfach um die Flaggen, wie sie nach einem Sturz beim Rennen verwendet wurden; weiß, um den Krankenwagen für den Jockey herbeizuordern; orange, wenn ein Pferd verletzt war. Er trieb es nicht lange. Nach ungefähr achtmaligem Winken gab er auf und marschierte zu den Tribünen zurück.
«Wofür soll das gut gewesen sein?«fragte Chico.
Er suchte mit dem Fernglas noch einmal die ganze Rennbahn ab.
«Außer ihm und uns ist kein Mensch zu sehen.«
«Wahrscheinlich war er seit Monaten neben einer Hürde postiert und hat auf eine Gelegenheit gewartet, mit seinen Flaggen zu winken. Und die Versuchung war eben jetzt zu groß.«
Ich stand auf, streckte mich, ging durch das Gebüsch zu >Revelation< und nahm ihm die Decke ab.
«Was treiben Sie denn?«fragte Chico.
«Dasselbe wie der Mann mit den Flaggen. Ich erliege einer unerträglichen Versuchung. Helfen Sie mir hinauf!«
Er tat es, hielt aber die Zügel fest.
«Sie sind wahnsinnig. Sie haben heute nacht gesagt, daß man Sie vielleicht nach der Rennveranstaltung läßt, aber nie vorher. Wenn sie nun die Hürden zertöppern?«
«Dann gibt es einen Riesenstunk«, gab ich zu.»Aber ich sitze auf einem großartigen Sprungpferd, vor einer einmaligen Rennbahn, an einem herrlichen Tag, und alle sind beim Essen. «Ich grinste.»Hände weg!«
Chico gehorchte.
«Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich«, sagte er zweifelnd.
«Nur nicht zu Herzen nehmen«, erwiderte ich und trieb
>Revelation< an.
Ich ritt langsam hinaus auf die Bahn, Richtung Tribüne. Die Rennen wurden entgegen dem Uhrzeigersinn gelaufen. Immer noch langsam erreichten wir die Straße und überquerten die noch unbedeckte Teerdecke. Auf der anderen Seite der Straße war alles mit Lohe zugedeckt. Dem Pferd konnte es nicht schwerfallen, darüberzugaloppieren.
Auf der anderen Seite, als wir wieder Rasen unter uns hatten, begann >Revelation< zu traben. Er wußte, wo er war. Selbst ohne Zuschauer und ohne Lärm erregte es ihn, auf einer vertrauten Rennbahn zu sein. Seine Ohren stellten sich auf, seine Gangart wurde schneller. Mit vierzehn genoß er schon seit einem Jahr das Gnadenbrot, aber er bewegte sich unter mir wie ein Vierjähriger. Auch ihm, so schien es mir, machte es satanischen Spaß, dieses unerlaubte Vergnügen zu genießen.
Chico hatte natürlich recht. Ich durfte kurz vor einem Rennen nicht auf der Bahn reiten. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich wußte es besser.
Ich trieb >Revelation< an. Da ich nicht sicher war, ob >Revelation< ohne weiteres über die Hecke springen würde, versuchte ich es bei den Hürden.
Sobald er sie gesehen und meine Absicht gespürt hatte, wäre er wohl nicht mehr aufzuhalten gewesen, selbst wenn ich es gewollt hätte. Er setzte federleicht über die erste Hürde und raste auf die nächste zu. Danach ließ ich ihm freie Bahn, und er suchte sich meist die Hecke aus. Es schien ihm nichts auszumachen, daß er auf sich selbst gestellt war. Schließlich hatte er einmal den Gold Cup gewonnen und durfte endlich wieder mal etwas tun, wofür er geboren war. Er flog wie ein Vogel über die Hecke.
Meine Gefühle ließen sich nicht in Worte fassen. Ich hatte, seit ich gezwungen gewesen war, den Rennsport aufzugeben, gelegentlich auf Pferden gesessen, aber nie mehr tun können, als mit Marks Pferden zum Spazierritt auszureiten. Jetzt saß ich wieder da, wo ich früher hingehört hatte, konnte tun, was mir zweieinhalb Jahre versagt geblieben war. Ich grinste übers ganze Gesicht und lenkte >Revelation< auf den Wassergraben zu.
Er übersprang ihn mit weitem Abstand. Ideal! Von der Tribüne zu meiner Rechten drangen keine Zornesrufe an mein Ohr, und wir rasten um die Kurve. Wieder eine Hecke, >Revelation< schwebte darüber, fünf weitere auf der anderen Seite. Bei der dritten Hürde hatte der Mann mit seinen Flaggen gewinkt.
Da kam die Stange, der Graben, und das hohe Hindernis. >Revelation< setzte zum Sprung an.
Als wir in die Luft stiegen, kam er, der gleißende Blitz. Weißes, grelles, ins Gehirn dringendes Licht, das den Tag in eine Million Fragmente zersplitterte und die Welt im Sonnenglast für mich versinken ließ.
Ich spürte, wie >Revelation< unter mir stürzte, und rollte mich instinktiv zur Seite, mit offenen Augen, aber ohne etwas zu sehen. Dann der harte Aufprall am Boden, langsam wiederkehrendes Sehvermögen, vom grellen Licht zur Schwärze, durch Grau zu normal.
Ich war vor >Revelation< auf den Beinen und hatte die Zügel noch in der Hand. Er raffte sich verwirrt und schwankend auf, war aber offenbar unverletzt. Ich zog ihn vorwärts, um mich zu vergewissern, daß er sich nichts gebrochen oder gezerrt hatte, und stellte erleichtert fest, daß ihm nichts fehlte. Es blieb nur noch, so schnell wie möglich aufzusteigen, aber was ungeheuer schwierig war. Mit beiden Händen hätte ich leicht aufspringen können, aber so kletterte ich erst beim dritten Versuch mühsam in den Sattel, nachdem ich die Zügel verloren und mir auch noch den Sattelknopf in den Bauch gerannt hatte. >Revelation< benahm sich lammfromm. Er trabte nur fünfzig Meter in die falsche Richtung, bis ich mich gesammelt, die Zügel ergriffen und ihn umgedreht hatte. Diesmal verzichteten wir auf weitere
Sprünge.
Ich trabte mit ihm die Bahn entlang, überquerte die Straße und trieb ihn dann nicht zum Halbrund, sondern nach rechts, zu der Stelle, wo der Zaun an die Hauptstraße nach London reichte. Aus dem Augenwinkel sah ich Chico durch das Gras auf mich zurennen. Ich winkte ihn herbei, brachte >Revelation< zum Stehen und wartete.
«Ich dachte, Sie können reiten«, rief er keuchend.
«Ja«, sagte ich.»Das dachte ich auch einmal.«
Er sah mich scharf an.
«Sie sind heruntergefallen. Ich habe zugesehen. Sie sind heruntergefallen wie ein Säugling.«
«Wenn Sie mich beobachtet haben — das Pferd ist gestürzt, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Das ist ein Unterschied, der für Jockeys sehr wichtig ist.«
«Quatsch«, sagte er.»Sie sind heruntergefallen.«
«Los«, sagte ich und trieb >Revelation< zum Zaun.»Wir müssen etwas suchen. «Ich erklärte Chico, worum es sich handelte.»In einem von diesen Häuschen, denke ich. An einem Fenster, auf einem Dach oder in einem Garten.«