«Mistkerle«, sagte Chico wütend.»Diese Mistkerle!«
Es war nicht besonders schwierig, weil nur eine Strecke von ungefähr hundert Metern in Frage kam. Wir suchten methodisch, blieben an jedem Garten stehen, an jedem Haus. Fragende Gesichter zeigten sich an den Fenstern.
Chico sah ihn zuerst. Er steckte an einem hohen, entlaubten Ast eines Baums, der im vorletzten Garten stand. Nur zehn Meter entfernt rollte der Verkehr auf der Straße nach London, und >Revelation< begann unruhig zu werden.
«Schauen Sie!«sagte Chico und deutete nach oben.
Ich blickte nach oben und hatte Mühe, >Revelation< zu bändigen. Er war eineinhalb Meter hoch, einen Meter breit und blankpoliert — ein Spiegel.
«Mistkerle!«wiederholte Chico.
Ich nickte, stieg ab, führte >Revelation< zu einer Stelle zurück, wo der Verkehr nicht mehr störte, und band die Zügel am Zaun fest. Dann gingen Chico und ich zur Autostraße, marschierten um den Zaun herum und erreichten die Nebenstraße. Napoleon Street hieß sie. Wir läuteten am zweiten Haus. Ein Mann und eine Frau öffneten gemeinsam die Tür — ältere, brave Leute.
Ich kam sofort zum Thema und sagte:»Wissen Sie, daß in Ihrem Baum ein Spiegel angebracht ist?«
«Das ist doch albern«, sagte die Frau. Sie hatte gewelltes graues Haar und trug ein braunes Wollkleid.
«Sie sehen wohl besser nach«, schlug ich vor.
«Das ist kein Spiegel«, sagte der Mann erstaunt.»Ein Plakat. Werbung!«
«Richtig«, ergänzte seine Frau.»Ein Plakat.«
«Wir haben zugesagt, unseren Baum ausnahmsweise — «
«Nur für eine kleine Summe. Unsere Pension.«
«Ein Mann hat den Rahmen angebracht. Er wollte mit dem Plakat gleich zurückkommen.«
«Irgend etwas Religiöses, glaube ich.«
«Sonst hätten wir es nicht gemacht.«
Chico fuhr dazwischen.
«Ich hätte das nicht für einen guten Platz gehalten. Ihr Baum steht weiter hinten als die anderen. Das ist doch kein Blickfang.«
«Ich dachte«, sagte der Mann zweifelnd,»aber der Mann sagte — «
«Aber da er bereit war, für Ihren Baum Miete zu bezahlen, wollten Sie nicht ablehnen«, sagte ich.»Ein paar Scheinchen möchte man nicht gerne den Nachbarn überlassen.«
Sie hatten es nicht so ausgedrückt, widersprachen aber nicht.
«Sehen Sie sich’s an«, sagte ich.
Sie gingen mit mir auf dem schmalen Weg zurück in den Garten. Der Baum stand auf halbem Wege zwischen dem Haus und dem Rennplatzzaun. Die Sonne schickte ihre Strahlen schräg durch die entlaubten Äste. Wir sahen den Holzrücken des Spiegels und die Seile, mit denen er am Baumstamm befestigt war. Das Ehepaar ging um den Baum herum und starrte verblüfft nach oben.
«Er sagte, es wäre ein Plakat«, wiederholte der Mann.
«Na ja, es ist wohl auch für ein Plakat«, meinte ich.»Aber im Augenblick ist es noch ein Spiegel. Außerdem ist er genau auf die Rennbahn gerichtet, und Sie wissen ja, wie Spiegel das Sonnenlicht reflektieren. Wir dachten nur, daß es vielleicht nicht ungefährlich ist, wenn jemand das Licht in die Augen bekommt. Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir ihn ein bißchen drehen?«
«Du meine Güte«, sagte die Frau, die zum erstenmal unsere Reiterkleidung zu bemerken schien,»da kann ja niemand die Rennen verfolgen, wenn ihm das Licht in die Augen scheint.«
«Genau. Es macht Ihnen also nichts aus, wenn wir den Spiegel ein Stück drehen?«
«Das kann doch bestimmt nicht schaden, Papa?«meinte sie zweifelnd.
Er machte eine unentschlossene Handbewegung, und Chico erkundigte sich, wie der Spiegel überhaupt im Baum befestigt worden war. Der Mann hatte eine Leiter mitgebracht, erwiderte sie, sie selbst besäßen keine. Chico zuckte die Achseln, zog mich zum Baum, stellte einen Fuß auf meine Schenkel, den zweiten auf meine Schulter und kletterte wie ein Eichkätzchen hinauf. Die beiden rissen den Mund auf.
«Wie lange ist es her?«fragte ich.»Wann hat der Mann den Spiegel angebracht?«
«Heute früh«, sagte die Frau.»Er war gerade erst hier, mit noch einem Seil. Und bei der Gelegenheit sagte er, er käme gleich mit dem Plakat.«
Der Spiegel war also im Baum angebracht worden, während Chico und ich im Gebüsch gesessen hatten, und erst dann justiert worden, als die Sonne an der entsprechenden Stelle am Himmel stand: um zwei Uhr. Das dritte Rennen, ein HandicapHindernisrennen, sollte morgen um diese Zeit stattfinden. Wahrlich ein Handicap, dachte ich, ein Lichtblitz in die Augen!
Weiße Flagge: ein bißchen nach links! Orange: ein bißchen nach rechts! Keine Flagge: genau im Ziel!
Man brauchte dann nur noch morgen nachmittag wiederzukommen und ein Plakat auf das Glas zu kleben, so daß selbst eine schnell organisierte Suchaktion keinen Spiegel zutage fördern würde. Eben wieder Pech für Seabury. Tote Pferde, zerdrückte, zertrampelte Jockeys. Pech!
Schicken Sie meine Pferde anderswohin, Mr. Whitney, in Seabury passiert immer etwas. Ich täuschte mich nur in einem. Die Anbringung des Plakats war nicht für den folgenden Tag vorgesehen.
Kapitel 13
«Ich halte es für besser, wenn Sie wieder hineingehen«, sagte ich leise zu dem Ehepaar.»Wir erklären dem Mann, der eben kommt, was wir mit seinem Spiegel anstellen.«
>Papa< sah zur Straße, legte seinen Arm schützend um die Schultern seiner Frau und sagte dankbar:»Ja, ja.«
Beide verschwanden hastig durch die Hintertür in ihrem Häuschen, während ein großer Mann mit einer auseinanderklappbaren Leichtmetalleiter und einer großen Papierrolle zur Gartentür hereinkam. Ich hatte gehört, wie sein blauer Kombi gehalten hatte, wie die Handbremse angezogen worden war und die Leiter ausgeladen wurde. Chico, der noch im Baum saß, rührte sich nicht.
Ich stand mit dem Rücken zur Sonne, aber dem großen Mann schien sie direkt ins Gesicht, als er den Garten betrat.
Er sah aus wie eine Mischung zwischen einem Schwergewichtsringer und dem Vesuv — kantig, von brutaler Kraft und kurz vor einem Ausbruch.
Er kam direkt auf mich zu, ließ die Leiter fallen und fragte:
«Was ist los?«
«Der Spiegel«, sagte ich,»kommt hier runter!«
Seine Augen verengten sich plötzlich.
«Da kommt ein Plakat drauf«, sagte er noch ganz vernünftig und hob die Papierrolle hoch. Aber auf einmal kochte die Lava über, das Papier flog davon, und die Muskeln wölbten sich.
Von einem Kampf konnte kaum die Rede sein. Er zielte zuerst auf mein Gesicht, überlegte es sich anders und hämmerte mir beide Fäuste in den Bauch. Ich krümmte mich, fiel auf den Rasen, packte die Leiter und traf ihn damit in den Kniekehlen.
Unter dem Aufprall erzitterte der Boden. Er stürzte auf die Seite, und sein Jackett öffnete sich. Ich warf mich nach vorn und griff nach dem Revolver, der in einer Halfter an seinem Brustkorb steckte. Ich ergriff die Waffe, aber er wischte mich mit einem Arm beiseite, der dick war wie ein Telegrafenmast. Ich fiel um. Er raffte sich auf, riß den Revolver wieder an sich und feixte mich verächtlich an. Er schnellte hoch wie eine losgelassene Feder und stieß mir bei der Gelegenheit die Stiefelspitze in den Nabel. Außerdem legte er den Sicherungshebel seiner Waffe um.
Oben auf dem Baum stieß Chico einen Schrei aus. Der große Mann drehte sich um und machte drei Schritte auf ihn zu. Er sah ihn zum erstenmal. Da er die Auswahl hatte, wählte er sich ein Ziel aus, das noch Widerstand zu leisten vermochte. Die Hand mit dem Revolver richtete sich auf Chico.
«Leo!«schrie ich.
Keine Reaktion. Ich versuchte es noch einmal.
«Fred!«
Der große Mann drehte kurz den Kopf, und Chico sprang von oben auf ihn herab.
Ein Schuß löste sich, und wieder zersplitterte der Tag in glitzernde, winzige Bruchstücke. Ich saß auf dem Boden, die Knie angezogen, stöhnte leise, fluchte laut und versuchte hochzukommen.