«Spielst du Schach?«fragte er gelangweilt.
«Ich weiß, wie man zieht«, sagte ich.
Er hob die Schultern, schien sich aber zu überlegen, daß es weniger Mühe machen würde als ein Gespräch, holte ein Schachspiel und winkte mich an den Tisch.
Er war normalerweise ein guter Spieler, an diesem Nachmittag aber gelangweilt, gereizt und unaufmerksam, und ich besiegte ihn verhältnismäßig leicht. Er konnte es nicht glauben. Er starrte das Brett an und spielte mit dem Läufer, der ihn das Spiel gekostet hatte.
«Wo hast du das gelernt?«fragte er schließlich.
«Nach einem Buch.«
«Spielst du viel?«
«Nein, hier und da einmal. «Aber ich hatte meistens sehr gute Gegner gehabt.
«Hm. «Er machte eine Pause.»Noch ein Spiel?«
«Ja, wenn du magst.«
Wir spielten. Es dauerte lange und endete patt, mit nur noch wenigen Figuren auf dem Brett. Vierzehn Tage später rief er uns an und bat uns, beim nächsten Besuch, wenn möglich, über Nacht zu bleiben. Es war der erste Friedensfühler.
Von dieser Zeit an fuhren wir öfter und bereitwilliger nach Aynsford. Charles und ich spielten gelegentlich Schach, Siege und Niederlagen verteilten sich gleichmäßig, und er fing an, Rennplätze zu besuchen. Ironischerweise wurde die gegenseitige Achtung so stark, daß sie sogar den Zusammenbruch meiner Ehe überlebte. Charles’ Interesse für den Rennsport erweiterte und vertiefte sich mit jedem Jahr.
«Gestern war ich in Ascot«, sagte er.»Ganz ordentlich. Wally
Gibbons ritt im Handicap-Rennen einen großartigen Sieg heraus, dafür versagte er im Neulingsrennen völlig.«
«Das kann er nicht«, gab ich zu.
«Eine großartige Rennbahn.«
«Weitaus die beste.«
Schwäche überflutete mich wie eine Welle, vom Magen aus. Meine Beine begannen unter der Decke zu zittern. Das kam oft vor — ärgerlich.
«Gottseidank, daß der Platz der Königin gehört und vor Bodenspekulation sicher ist. «Er lächelte.
«Ja, sicher.«
«Du bist müde«, sagte er plötzlich.»Ich bin zu lange geblieben.«
«Nein«, protestierte ich.»Es geht mir wirklich gut.«
Er drückte jedoch die Zigarre aus und stand auf.
«Ich kenne dich zu gut, Sid. Was du unter gut verstehst, ist nicht dasselbe wie bei anderen Leuten. Wenn du Sonntag in einer Woche noch nicht soweit bist, daß du nach Aynsford kommen kannst, sag mir bitte Bescheid. Ansonsten sehen wir uns.«
«Ja, okay.«
Er verabschiedete sich, und ich dachte hinterher, daß ich mich zu schnell erschöpfte. Muß wohl das hohe Alter sein, sagte ich mir, schon einunddreißig! Der alte, müde, demolierte Sid Halley, armer Kerl. Ich schnitt eine Grimasse. Eine Krankenschwester kam herein, um mich für die Nacht herzurichten.
«Sie haben ein Päckchen«, sagte sie, als spräche sie mit einem zurückgebliebenen Kind.»Wollen Sie es nicht aufmachen?«
Ich hatte Charles’ Mitbringsel vergessen.
«Soll ich es für Sie auspacken? Ich meine, wenn man so eine
Hand hat, fällt das doch sicher schwer.«
«Ja«, sagte ich,»danke.«
Sie durchschnitt die dünne Schnur, schälte das Geschenk aus seiner Verpackung und starrte das schmale schwarze Buch zweifelnd an.
«Es gehört doch Ihnen? Ich meine, eigentlich ist es kein Geschenk für Patienten.«
Sie gab mir das Buch in die rechte Hand, und ich las den Titel >Grundzüge des Gesellschaftsrechts<.
«Mein Schwiegervater hat es absichtlich hiergelassen. Er hat es mir zugedacht.«
«Na ja, es fällt einem ja auch nicht leicht, einen Kranken zu beschenken, der kein Obst essen darf.«
Sie machte sich an die Arbeit und ließ mich dann allein.
>Grundzüge des Gesellschaftsrechts<…?
Ich blätterte in dem Band. Es war zweifellos ein Buch über Gesellschaftsrecht. Pure Juristerei. Keine leichte Unterhaltung für einen Invaliden. Ich legte es auf den Nachttisch. Ich setzte voraus, daß er nicht ohne Absicht gerade dieses Buch ausgewählt hatte. Er verband irgendeinen Hintergedanken damit. Das Thema sollte mir oder ihm später einmal nützlich sein. Er glaubte vielleicht, mich in eine andere Laufbahn drängen zu können, nachdem ich mich bei Radnor nicht ausgezeichnet hatte. Ein Anstoß, das sollte das Buch sein. Ein Anstoß in eine bestimmte Richtung.
Ich überlegte mir, was er gesagt hatte, auf der Suche nach einem Hinweis. Er hatte darauf gedrängt, ich möchte ihn in Aynsford besuchen, er hatte Jenny nach Athen geschickt. Er hatte vom Rennsport gesprochen, von dem neuen Rennen in Sandown, von Ascot, von Wally Gibbons. Nirgends ein Zusammenhang mit Gesellschaftsrecht.
Ich seufzte und schloß die Augen. Ich fühlte mich nicht besonders. Ich brauchte das Buch nicht zu lesen, brauchte die von Charles gewiesene Richtung nicht einzuschlagen. Und doch warum nicht? Es gab nichts, was ich statt dessen dringend tun müßte. Ich beschloß, mich der Mühe zu unterziehen — morgen.
Vielleicht.
Kapitel 2
Vier Tage nach meiner Ankunft in Aynsford kam ich nach dem Nachmittagsschlaf ins Parterre, wo Charles in der großen Halle vor einer riesigen Kiste stand und darin wühlte. Auf dem ganzen Parkett war Holzwolle verstreut, auf einem niedrigen Tisch neben ihm lagen Trophäen seiner Wühlarbeit, für mein ungeübtes Auge nichts als Gesteinsbrocken.
Ich nahm einen davon in die Hand. Auf einer Seite war der Stein glattgeschliffen. Dort klebte ein Etikett.
>Porphyr< stand darauf und darunter >Mineralogiestiftung Carverc.
«Ich wußte nicht, daß du dich so für Quarz interessierst.«
Er warf mir einen seiner ausdruckslosen Blicke zu, die nicht bedeuteten, daß er mich nicht gehört oder verstanden hätte, sondern daß er sich nur nicht zu erklären gedachte.
«Ich angele«, sagte er und griff wieder in die Kiste. Der Quarz war also ein Köder. Ich legte den Porphyr weg und nahm ein anderes Stück. Es war klein, ungefähr eigroß und wunderschön, klar und durchsichtig wie Glas. Auf dem Etikett stand nur >Bergkristallc.
«Wenn du dich nützlich machen willst«, sagte Charles,»kannst du auf die leeren Etiketten, die auf meinem Schreibtisch liegen, die Namen schreiben, die Klebezettel der Stiftung ablösen und die neuen aufkleben. Aber die alten nicht wegwerfen! Wir müssen sie auswechseln, wenn das Zeug zurückgeschickt wird.«
«In Ordnung.«
Der nächste Brocken, den ich aufhob, war schwer und von Gold durchzogen.
«Sind die Dinger wertvoll?«erkundigte ich mich.
«Manche schon. Irgendwo muß eine Broschüre sein. Ich habe der Stiftung erklärt, daß sie hier in Sicherheit sind. Ich sagte, ein Privatdetektiv wäre im Haus und bewachte sie ständig.«
Ich lachte und begann, nach der Inventurliste neue Etiketten zu schreiben. Die Brocken hatten keinen Platz mehr auf dem Tisch und mußten auf den Boden gelegt werden, bevor die Kiste leer war.
«Draußen ist noch eine Kiste«, meinte Charles.
«Um Gottes willen!«
«Ich sammle Quarz«, sagte Charles würdevoll,»das bitte ich nicht zu vergessen. Ich sammle schon seit Jahren, nicht wahr?«
«Seit Jahren«, stimmte ich zu.»Du bist eine Autorität.«
«Ich habe genau einen Tag Zeit, um alle Namen auswendig zu lernen«, sagte Charles lächelnd.»Sie sind später gekommen, als ich dachte. Bis morgen abend darf mir kein Fehler mehr unterlaufen.«
Er holte die zweite Ladung, die wesentlich kleiner war und wichtigtuerische Siegel trug. In der Kiste befanden sich ungeschliffene Halbedelsteine, jeder auf eigenem Sockel. Der Gesamtwert machte mich schwindlig. Die Stiftung Carver mußte das Märchen mit dem Privatdetektiv ernst genommen haben. Man hätte die Schätze nicht herausgegeben, wenn mein Gesundheitszustand dort bekannt gewesen wäre.
Wir arbeiteten geraume Zeit an der Auswechslung der Etiketten, während Charles die Namen wie Beschwörungsformeln vor sich hinmurmelte.