«Alles?«
«Restlos alles. Sid, ich. Aber was kann man machen?«
Die Briefe Jennys, als sie mich noch geliebt hatte — das einzige Foto von meinen Eltern, meine Renntrophäen. Alles! Ich lehnte wie betäubt an der Zellenwand.
«Sid, sind Sie noch da?«
«Ja.«
«Im Büro war es genauso. Die Leute auf der anderen Straßenseite sahen mehrmals Lichtschein und ein paar Schatten. Man dachte, wir machten Überstunden. Der Alte sagte, wir müßten davon ausgehen, daß sie nicht gefunden haben, was sie suchten. Er möchte wissen, was es war.«
«Ich weiß es nicht«, sagte ich.
«Sie müssen es wissen!«
«Nein, ich weiß es nicht.«
«Überlegen Sie es sich auf dem Rückweg.«
«Ich komme nicht zurück — heute nacht nicht! Das nützt gar nichts. Ich gehe lieber wieder auf den Rennplatz, um mich zu vergewissern, daß dort nichts passiert.«
«Na schön. Ich sage ihm Bescheid, wenn er anruft. Er will die ganze Nacht in der Cromwell Road bleiben.«
Wir legten auf, und ich trat in die kalte Nacht hinaus. Radnor hatte sicher recht. Wir mußten unbedingt herausfinden, was die Bombenwerfer gesucht hatten. Ich lehnte an der Telefonzelle und dachte nach; absichtlich nicht über die Wohnung, an die ich mich gewöhnt hatte, an all das, was verlorengegangen war.
Um etwas zu suchen, mußte man wissen, daß es existierte.
Wenn man Bomben verwendete, war das Zerstören wichtiger als das Finden. Was hatte ich in meinem Besitz, das Kraye vernichten wollte?
Die Kugel, die Fred in den Spiegel geschossen hatte? Man würde sie nicht finden, weil sie sich beim Schußwaffensachverständigen der Polizei befand. Und wenn man die Meinung gehabt hätte, sie wäre in meinem Besitz, hätte man sie am Tag zuvor schon gesucht.
Das Rundschreiben Bolts? Davon gab es Hunderte!
Der Brief, den Mervyn Brinton für mich geschrieben hatte? Aber das hieße ja.
Ich trat wieder in die Zelle und rief Mervyn Brinton an. Zu meiner Erleichterung war er zu Hause.
«Alles in Ordnung, Mr. Brinton?«
«Ja. Was ist los?«
«Sie haben keinen Besuch erhalten? Sie haben niemandem erzählt, daß ich bei Ihnen war oder daß Sie den Brief Ihres Bruders auswendig wissen?«
Seine Stimme klang verängstigt.»Nein. Passiert ist nichts. Ich würde keinem Menschen etwas davon erzählen.«
«Gut«, sagte ich.»Das ist prima. Ich wollte nur noch einmal nachfragen.«
Brintons Brief kam also nicht in Frage.
Die Fotos! dachte ich. Sie waren die ganze Zeit im Büro gewesen, bis Radnor sie Lord Hagbourne mitgegeben hatte. Niemand außerhalb unserer Firma mit Ausnahme von Lord Hagbourne und Charles hatte gewußt, daß es sie gab. Bis heute früh, als Lord Hagbourne sie nach Seabury mitgenommen und dort verloren hatte.
Wenn sie nun nicht verlegt, sondern gestohlen worden waren? Von jemandem, der Kraye kannte und der Meinung war, er müßte sie ihm zuschanzen? An den Daten der fotografierten
Unterlagen konnte Kraye erkennen, wann die Fotos aufgenommen worden waren. Und wo!
Meine Kopfhaut zog sich zusammen. Ich mußte also jetzt davon ausgehen, daß sie über mich Bescheid wußten.
Ich bekam es plötzlich mit der Angst zu tun und rief in Aynsford an. Charles war selbst am Apparat.
«Charles«, sagte ich,»tu bitte, was ich sage, sofort und ohne zu fragen! Nimm Mrs. Cross mit, setz dich in den Wagen, fahr ein gutes Stück vom Haus weg und ruf mich unter Seabury 79411 an! Verstanden? Seabury 79411!«
Er sagte» Ja «und legte auf.
Ich war erleichtert. Vielleicht blieb nicht mehr viel Zeit. Die Bombe im Büro war vor eineinhalb Stunden explodiert; die Fahrt von London nach Aynsford dauerte genauso lange.
Zehn Minuten später läutete es. Ich nahm den Hörer ab.
«Es hieß, du bist in einer Zelle«, sagte Charles.
«Stimmt, und du?«
«Ich bin in der Wirtschaft im Dorf. Was ist los?«
Ich erzählte ihm von den Bomben, was er mit Entsetzen quittierte, und von den vermißten Fotos.
«Ich wüßte nicht, was sie sonst suchen sollten.«
«Aber du hast doch gesagt, daß sie sie haben.«
«Und die Negative?«meinte ich.
«O ja. Sie waren weder in deiner Wohnung noch im Büro?«
«Nein, durch Zufall nicht.«
«Und du glaubst, daß sie auch nach Aynsford kommen, wenn sie immer noch suchen?«
«Wenn sie so verzweifelt sind, wie ich glaube, dann schon. Vielleicht nehmen sie an, daß du weißt, wo ich meine Sachen verstecke. Vielleicht wollen sie sogar versuchen, aus dir etwas herauszupressen. Ich habe dich gebeten, so schnell wie möglich zu verschwinden, weil ich das nicht riskieren will. Wenn sie nach Aynsford gefahren sind, müßten sie jeden Augenblick eintreffen. Sie wissen schon, daß ich die Fotos in deinem Haus aufgenommen habe.«
«Von den Daten. Ja, stimmt. Ich setze mich mit der Polizei in Verbindung und verlange sofort, daß man das Haus bewacht.«
«Charles, einer von den Kerlen — wenn er der mit den Bomben ist, brauchtest du eine ganze Kompanie.«
Ich beschrieb Fred und seinen Kombi und gab das Kennzeichen durch.
«In Ordnung. Warum sind die Fotos so wichtig für die Leute? So wichtig, meine ich, daß sie Bomben werfen?«
«Wenn ich das nur wüßte.«
«Sei vorsichtig!«
«Ja.«
Ich war vorsichtig. Statt ins Hotel zurückzugehen, rief ich an. Der Geschäftsführer, mit dem ich seit langen Jahren bekannt war, sagte:»Sid, wo sind Sie denn, man hat schon den ganzen Abend versucht, Sie zu erreichen, auch die Polizei.«
«Ja, Joe, ich weiß. Alles in Ordnung. Ich habe mit den Leuten in London gesprochen. Ist inzwischen jemand im Hotel erschienen, der nach mir gefragt hat?«
«Ja, jemand ist in Ihrem Zimmer, Ihr Schwiegervater, Admiral Roland.«
«Wirklich? Sieht er aus wie ein Admiral?«
«Ich denke schon«, meinte er verblüfft.
«Ein Gentleman?«
«Ja natürlich.«
Also nicht Fred!
«Das ist nicht mein Schwiegervater. Ich habe gerade mit ihm in Oxfordshire telefoniert. Holen Sie ein paar Leute, und werfen
Sie den Kerl hinaus!«
Ich legte seufzend auf. Daß jemand in meinem Zimmer saß, bedeutete wohl, daß alles, was ich nach Seabury mitgebracht hatte, verloren sein würde. Mir blieben also nur die Kleider, die ich am Leib trug, und der Wagen.
Ich rannte wie der Blitz zu der Stelle, wo ich ihn geparkt hatte. Er war abgesperrt und unbeschädigt. Ich tätschelte ihn dankbar, stieg ein und fuhr zum Rennplatz hinaus.
Kapitel 15
Alles war still, als ich durchs Tor fuhr und den Motor abstellte. Ich sah Licht — hinter den Fenstern des Pressezimmers, eins über der Tür zum Wiegeraum, eins irgendwo hoch oben in der Tribüne. Sonst war es stockdunkel, eine klare Nacht, mondlos.
Ich ging zum Pressezimmer, um mich zu erkundigen, ob etwas vorgefallen sei.
Die Streifen hatten nichts zu berichten, denn alle vier schliefen fest.
Wütend schüttelte ich den ersten. Sein Kopf wackelte hin und her, er wachte nicht auf. Er saß zusammengesunken auf seinem Stuhl. Ein anderer hatte die Arme auf den Tisch und den Kopf daraufgelegt. Der dritte saß auf dem Boden, mit hängenden Armen. Der vierte lag mit dem Gesicht nach unten an der Wand.