»Sieh endlich ein, daß du keine Wahl mehr hast«, sagte Sarim. »Du hast noch den Springer und einen Turm. Den Turm nehme ich dir beim übernächsten Zug, und damit hast du verloren. Es sei denn, du schlägst meine Königin.« Sarim kicherte. »Aber das wirst du nicht tun, nicht wahr?«
Howard hatte nicht mehr die Kraft, zu antworten. Sein Blick suchte die weiße Königin und saugte sich an dem blassen Mädchengesicht hinter dem Stahlvisier fest, und in seiner Brust flammte ein neuer, viel tiefer gehender Schmerz auf. Er wußte, daß de Laurec die Wahrheit sprach. Die Dame würde seinen Turm schlagen, und nur mit seinem König und einem einzelnen Springer konnte er das Spiel nicht mehr gewinnen. Wäre dies ein normales Spiel gewesen, hätte er versuchen können, Sarims König zu schlagen und so zumindest ein Remis herauszuholen. Aber nicht einmal das konnte er.
»Turm A6 auf E6«, murmelte er. »Schach.«
Seine Figur führte den Zug gehorsam aus. Ein dünner Blitz zuckte aus ihrer Vorderseite und traf den weißen König.
De Laurec lachte hämisch und stellte seine Dame zwischen Howards Turm und den bedrohten König.
Das Gewitter war mit voller Kraft losgebrochen, ehe wir die halbe Strecke zu Sarim de Laurecs kleinem Chalet hinter uns gebracht hatten, und es war das schlimmste Gewitter, an das ich mich zu erinnern vermochte. Meine Taschenuhr beharrte darauf, daß es sieben Uhr und somit schon längst Tag war. Aber der Himmel sagte das Gegenteil. Das Firmament hatte sich schwarz verfärbt und spannte sich wie eine gewaltige Kuppel aus geschmolzenem Teer von Horizont zu Horizont, aber der Himmel schien zu brennen. Die Blitze zuckten so rasch hintereinander zu Boden, daß es manchmal minutenlang hell war; dann wieder bewegten sich die beiden Kutschen durch absolute Finsternis, die vom Klatschen des strömenden Regens und den Geräuschen der Kutschen und Pferde erfüllt war. Es war ein Alptraum.
Obwohl wir fast eine Dreiviertelstunde unterwegs gewesen waren, hatten wir kaum ein Dutzend Worte miteinander gewechselt; und zu allem Überfluß hatten die Templer Rowlf und mich getrennt. Er war in den zweiten, gut fünfzig Meter hinter uns fahrenden Wagen verfrachtet worden, nachdem zwei von Balestranos Brüdern seine Hand verarztet hatten.
Ohnehin war es eine sehr sonderbare Fahrt gewesen. Obwohl sich die beiden Templer, die Balestrano und mich begleiteten, keine Mühe machten, irgendwie anders als drohend auszusehen und einer von ihnen sogar mit einem Dolch herumspielte, spürte ich, daß diese Männer nicht meine Feinde waren. Balestrano hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß wir seine Gefangenen waren. Aber wenn, dann zu unserem eigenen Schutz. Ich glaubte ihm. Ich habe stets gespürt, ob mein Gegenüber mich belog oder die Wahrheit sprach, und ich war selten einem so ausgeprägten Gefühl von Wahrheit begegnet wie bei Balestrano. Die ganze Situation war absurd; gelinde ausgedrückt. Diese Männer waren zusammengekommen, um meinen Freund zu töten, und sie machten nicht einmal einen Hehl daraus. Und trotzdem waren sie nicht meine Feinde.
Ich atmete innerlich auf, als wir nach einer Ewigkeit anhielten und Balestrano mir wortlos bedeutete, den Wagen zu verlassen. Der Regen klatschte mir wie eine nasse Hand ins Gesicht, und vor dem Hintergrund der unablässig zuckenden Blitze wirkte das Haus, vor dem wir angehalten hatten, wie eine billige Theaterkulisse. Der zweite Wagen kam knarrend wenige Schritte neben uns zum Stehen. Die Räder versanken fast eine Handbreit tief in dem sumpfigen Morast, in den der stundenlange Regen den Weg verwandelt hatte, und als sich die Tür öffnete und Rowlf - gefolgt von vier schweigenden Männern in dunklen Wettermänteln - ins Freie sprang, spritzte Wasser hoch.
Balestrano hob die Hand, und zwei seiner Begleiter huschten lautlos an uns vorbei, öffneten das schmiedeeiserne Tor, das die brusthohe Gartenmauer vor uns durchbrach, und glitten hindurch. Eine halbe Minute später kam einer von ihnen zurück und nickte stumm. Erst dann gingen wir los. Mein Mißtrauen regte sich stärker. Wenn dieses Haus einem von Balestranos Brüdern gehörte - wozu dann diese überflüssigen Sicherheitsmaßnahmen?
Lautlos näherten wir uns dem Haus. Der Regen strömte immer dichter, und die Blitze zuckten jetzt so dicht hintereinander, daß der parkgroße Garten des Anwesens fast taghell erleuchtet war. Die Luft knisterte von elektrischer Spannung, und der Donner rollte so mächtig, als lieferten sich über uns zwei himmlische Heerscharen ein Artillerieduell.
Balestrano blieb stehen, als wir uns der Tür bis auf drei Schritte genähert hatten. Einer seiner Begleiter eilte voraus und streckte die Hand nach dem löwenköpfigen Türklopfer aus, kam aber nicht dazu, ihn zu benutzen, denn in diesem Moment glitt das gewaltige Tor wie von Geisterhand bewegt nach innen. Balestrano ging los, als wäre so etwas das Selbstverständlichste von der Welt, und auch seine Begleiter folgten ihm ohne das geringste Zögern. Wohl oder übel mußten auch Rowlf und ich das sonderbare Haus betreten, obgleich mir alles andere als wohl dabei in meiner Haut war.
Es war nicht nur die Tatsache, daß ich um Howards oder etwa um mein Leben fürchtete. Diese Art der Angst kannte ich. Aber die Furcht, die ich jetzt spürte, war anderer Art. Es war, als spürte etwas in meiner Seele die Anwesenheit einer Gefahr, die meinen normalen menschlichen Sinnen noch verschlossen war.
Nun, was das anging - ich besaß noch ein paar mehr als die üblichen fünf Sinne. Während ich zwischen Balestrano und Looskamp durch die hohe, von elektrischem Licht beleuchtete Empfangshalle ging, versuchte ich den logischen Teil meines Denkens auszuschalten und mich auf die tiefer liegenden, animalischen Schichten meines Bewußtseins zu konzentrieren; auf die Teile des menschlichen Geistes, die mich zu dem befähigten, was die allermeisten Menschen mit Worten wie Zauberei und Magie bedacht hätten, nur weil sie nicht in der Lage waren, die wirkliche Natur dieser Kräfte zu erfassen.
Aber der Erfolg war gleich Null. Dieses Haus war ... tot. Ich spürte die Anwesenheit von Leben, aber es waren nur Rowlf und Balestrano und seine Männer. Dann, nach Sekunden, fühlte ich einen weiteren, menschlichen Geist. Ich konnte seine Gedanken nicht lesen - das habe ich nie gekonnt und wollte es auch nicht können -, aber ich spürte den Schmerz und die Verzweiflung, die ihn erfüllten. Und dann erkannte ich ihn.
Ich blieb so abrupt stehen, daß der hinter mir gehende Templer die Bewegung zu spät registrierte und in mich hineinrannte. »Howard«, sagte ich. »Howard ist hier, Rowlf.«
»Das wissen wir, Craven«, sagte Balestrano scharf, ehe Rowlf antworten konnte. »Begehen Sie jetzt keine Dummheit. Wenn Sie versuchen, Ihrem Freund zu helfen -«
»Werde ich auch zu Schaden kommen, ich weiß«, unterbrach ich ihn wütend. »Warum haben Sie mich hergebracht, Balestrano? Glauben Sie im Ernst, ich sehe tatenlos zu, wie Sie meinen Freund abschlachten?«
»Ich fürchte, Sie haben keine andere Wahl, mein Junge«, sagte er sanft. »Dies hier sind Dinge, die Sie nichts angehen.«
»Das werden wir sehen«, zischte ich.
Seltsamerweise antwortete Balestrano nicht mehr, sondern sah mich nur eine Sekunde lang mit sehr sonderbarem Blick an, ehe er sich abrupt abwandte und schnell weiterging.
Wir durchquerten die Halle, und Balestrano öffnete eine niedrige Tür an ihrem gegenüberliegenden Ende. Ein schmaler, nur von einer einzelnen elektrischen Lampe erhellter Gang nahm uns auf. Ich betrachtete die sonderbare Lichtquelle neugierig, während ich hinter dem alten Templer durch den Korridor schritt. Natürlich hatte ich schon von elektrischem Licht gehört - das war eine dieser neumodischen (und sündhaft teuren) Erfindungen, die sich jetzt überall auf dem Kontinent ausbreiteten und denen niemand im Ernst eine große Zukunft zutraute. Aber es war das erste Mal, daß ich eine elektrische Lampe sah. Der Anblick verwirrte mich. Aber das hätte der Anblick einer menschengroßen, sprechenden Puppe, die sich wie ein Wesen aus Fleisch und Blut bewegte, vor Tagesfrist auch noch getan.