Als wir das Ende des Ganges betraten, blieb Balestrano stehen. Wie vorhin am Tor gingen zwei seiner Männer an ihm vorbei und verschwanden hinter der Tür, und wie vorhin warteten wir, daß sie wiederkamen.
Ich wandte mich an Looskamp, der einen halben Schritt hinter mir stehengeblieben war. »Bruder Jean scheint diesem Laurec nicht gerade zu trauen«, sagte ich.
Looskamp sah mich mit sonderbarem Ausdruck in den Augen an. »Unsinn«, sagte er, so schnell und so heftig, daß die Antwort kaum überlegt war, sondern ganz automatisch zu erfolgen schien. Dann zuckte er mit den Achseln, starrte einen Moment zu Boden und nickte; wenn auch sehr widerwillig. »Vielleicht hast du sogar recht«, sagte er plötzlich. »Irgend etwas stimmt hier nicht.«
Balestrano sah auf. »Bruder Looskamp!« sagte er scharf. »Schweig!«
»Warum?« fragte ich wütend. »Glauben Sie, ich wäre blind, alter Mann? Es gibt nur zwei Erklärungen für das, was ich hier sehe - entweder es ist bei euch Templern üblich, mit einer Armee und dem Schwert in der Hand eure Freunde zu besuchen, oder hier stimmt wirklich etwas nicht. Wer ist dieser Sarim?«
Balestrano schwieg einen Moment, dann seufzte er. »Sie haben recht, Craven«, sagte er. »Es wäre sinnlos, die Wahrheit zu leugnen. Bruder de Laurec ist der Puppet-Master unseres Ordens, der -«
»Der was?« unterbrach ich ihn.
Der greise Templer lächelte verzeihend. »Es ist sein Talent. Macht über leblose Dinge zu gewinnen«, erklärte er. »So wie DeVries der Animal-Master war, dem die Herrschaft über die hirnlose Kreatur gegeben war.«
Ich begriff. »Der Herr über die leblosen Dinge«, murmelte ich. »Dann war diese ... Kreatur, die Rowlf und mich fast umgebracht hätte, sein Werk?«
»Ich fürchte es«, gestand Balestrano. »Das künstliche Auge, das Sie mir gaben - erinnern Sie sich?«
Das war die mit Abstand dämlichste Frage, die ich in den letzten Wochen gehört hatte. Trotzdem nickte ich nur stumm.
»Es gibt nur einen Menschen auf der Welt, der so etwas erschaffen kann«, sagte Balestrano. Plötzlich wirkte er besorgt. »Bruder de Laurec. Er hat meinen Befehl mißachtet. Und ich fürchte, nicht nur diesen.« Er wandte sich an Looskamp, und seine Augen waren dunkel vor Sorge. »Wir hätten es niemals berühren sollen, dieses Teufelsding.«
»Wovon reden Sie?« fragte ich.
»Von nichts«, sagte Looskamp rasch. »Jedenfalls nichts, was dich anginge, Robert.«
»Ach?« sagte ich spitz. »Wie zum Beispiel kristallene Gehirne, meinst du?«
Looskamp wollte auffahren, aber Balestrano brachte ihn mit einem raschen Wink zum Schweigen. »Laß nur, Bruder Looskamp«, sagte er. »Craven hat nicht einmal so unrecht. Vielleicht war es ein Fehler, den Herrn des Labyrinths in unsere Gewalt bringen zu wollen. Dieses Ding ist von Übel und nicht für Menschenhand gedacht. Wir hätten es zerstören sollen.«
»Was ... was bedeutet das?« fragte ich leise. Ein schrecklicher Verdacht begann in mir Gestalt anzunehmen. »Was haben Sie getan?«
»Wir haben versucht, die Macht des Gehirns unter unsere Kontrolle zu bringen, Craven«, antwortete er ernst. »Aber der Versuch scheiterte.«
»Scheiterte? Was geschah?«
»Nichts, was einer von uns erklären könnte«, erwiderte Balestrano ausweichend. »Nur soviel - um ein Haar wären ich und alle, die Sie hier sehen, ums Leben gekommen. Bruder de Laurec war es, der uns rettete.« Er schwieg eine Sekunde. »Aber ich fürchte«, fügte er dann hinzu, »daß irgend etwas mit ihm geschehen ist.«
Die Tür am Ende des Ganges wurde geöffnet, und einer der beiden Templer kam zurück. Er hatte Hut und Mantel abgestreift und trug jetzt nur noch das Zeremoniengewand des Ordens - schwarze Hosen, ein feingewebtes Kettenhemd, das in einer Art Kapuze endete, und darüber ein weißes Hemd mit dem gleichschenkeligen Kreuz des Templerordens. In seiner Rechten blitzte ein Schwert. Balestrano wandte sich um und sah ihn fragend an.
Der Mann nickte, trat beiseite und machte eine einladende Handbewegung. Dicht hinter Balestrano verließen wir den Gang und traten in einen weiteren, nur schwach beleuchteten Korridor hinaus. Eine Treppe führte an seinem jenseitigen Ende in die Höhe. Der Templer deutete schweigend mit dem Schwert hinauf, und wir gingen weiter.
Am oberen Ende der Treppe befand sich eine einzelne, nur angelehnte Tür. Flackerndes elektrisches Licht drang durch ihre Ritzen, und als ich hinter Balestrano hindurchtrat, bot sich mir ein Anblick, der mir im wahrsten Sinne des Wortes den Atem stocken ließ.
Wir standen auf einer schmalen, von einem brusthohen Geländer gesicherten Galerie, unter der sich ein gewaltiger, rechteckiger Saal ausdehnte. Eine Unzahl elektrisch betriebener Kronleuchter, deren Birnen bei jedem Blitz, der draußen niederzuckte, hektisch zu flackern begannen, beleuchtete die bizarre Szene:
Der Fußboden der Halle war mit gewaltigen schwarzen und weißen Fliesen ausgelegt. Fliesen, deren Muster ein übergroßes Schachbrett bildeten. Ein Feld, auf dem die grausamste Parodie dieses Spiels der Könige ablief, die man sich nur denken konnte.
Die meisten Figuren waren bereits ausgeschieden und lagen zermalmt und teilweise bis zur Unkenntlichkeit zerstört am Rande des Spielfeldes; ein gewaltiger Haufen ineinandergeknoteter metallener Leiber und Glieder. Fünf der sieben Figuren, die noch auf dem Feld standen, waren Maschinen. Schreckliche, ins Riesenhafte vergrößerte Karikaturen von Schachfiguren, deren bloßer Anblick mir einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Die beiden Könige waren zweieinhalb Meter hohe Giganten, die nur aus Stacheln und reißenden Klingen zu bestehen schienen und in unheimlichem elektrischem Licht glühten. Die zwei Springer waren riesenhafte, gräßlich verzerrte Pferdeköpfe auf einem metallenen Torso, und die Dame, die neben dem weißen König stand, ähnelte jenem geschmackvollen Folterinstrument, das ich unter dem Namen Eiserne Jungfrau kannte - nur daß ihre Stacheln nach außen gekehrt waren.
Die beiden letzten Figuren schließlich waren Menschen. Es dauerte einen Moment, bis ich den einen von ihnen erkannte, denn das Licht flackerte ununterbrochen und tauchte das Spielfeld in verwirrende Muster.
»Howard!« keuchte ich. »Um Gottes willen - das ist Howard!«
Instinktiv wollte ich loslaufen, aber Looskamp ergriff mich beim Arm und zerrte mich so heftig zurück, daß ich vor Schmerz aufstöhnte. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie zwei der Templer ihre Schwerter zogen und die Waffen drohend auf Rowlf richteten.
Die zweite Gestalt unten auf dem Spielfeld sah auf, als sie meine Stimme hörte. Für einen Moment begegnete ich dem Blick zweier dunkler, stechender Augen, dann wandte der Mann den Kopf, sah Balestrano an und nickte knapp. »Bruder Jean.«
»Was bedeutet das?« fragte Balestrano scharf. »Was soll das alles, Sarim? Rede!«
»Ich führe nur Euren Befehl aus, Bruder«, erwiderte Sarim de Laurec. Seine Stimme klang spöttisch. »Die Exekution des Verräters Lovecraft.«
»Ich gab dir den Auftrag, ihn zu töten«, sagte Balestrano zornig. »Nicht, ihn zu Tode zu foltern.«
»Wer spricht hier von Folter?« sagte de Laurec lächelnd. »Bruder Howard ist aus freien Stücken hier - fragt ihn selbst.«
»Stimmt das?« fragte Balestrano.
Howard hob mühsam den Kopf. Er hockte auf den Knien und schien kaum noch die Kraft zu haben, sich zu bewegen, und als er sich zu der Galerie umwandte, auf der wir standen, sah ich, daß seine Kleider blutig waren. Aus seiner rechten Schulter ragte etwas, das aus der Entfernung wie ein abgebrochener Degen aussah. Sein Gesicht war eine Maske der Pein.
Ich stöhnte vor Zorn und stemmte mich instinktiv gegen Looskamps Griff. Die Finger des Flamen suchten eine bestimmte Stelle an meinem Hals und drückten kurz und warnend zu. Mein Widerstand erlahmte. Ich kannte diesen Griff.