Trotz der aberwitzigen Situation, in der wir uns befanden, schlug mich das Spiel rasch in seinen Bann. Ich hatte ein paarmal den Größenwahn aufgebracht, mit Howard Schach zu spielen, und wußte, wie gut er war - und er bewies seine Meisterschaft auch jetzt, trotz des erbärmlichen Zustandes, in dem er sich befand. Immer wieder entgingen sein König und der Springer den Nachstellungen der weißen Dame, und immer wieder brachte er das Kunststück fertig, de Laurecs König mit nur einem Offizier vor sich herzutreiben. Aber auf Dauer würde es ihm nichts nutzen. Selbst der beste Schachspieler der Welt kann einen König nicht nur mit seinem eigenen König und einem Springer matt setzen. Es ist unmöglich. Trotzdem spielte er mit einer Meisterschaft, die jeden anderen nach spätestens zehn Minuten total entnervt hätte.
De Laurec nicht. Im Gegenteil. Je mehr ihn Howard vor sich hertrieb, desto amüsierter wirkte er. Und er spielte - gelinde ausgedrückt - wie der letzte Trottel. Schließlich besaß er den Nerv, seine Dame direkt neben Howards König zu plazieren und kichernd »Schach« zu rufen.
Mein Unterkiefer klappte vor Unglauben herunter, als sich Howard unter einem elektrischen Blitz krümmte, mühsam wieder zu Atem kam - und seinen König zurückzog, statt die Dame zu schlagen, die vollkommen ungeschützt neben ihm stand!
»Howard!« brüllte ich. »Bist du von Sinnen? Warum schlägst du sie nicht?«
Howard stöhnte, und wie zur Antwort stieß die Laurec ein neuerliches, fast wahnsinnig klingendes Kichern aus. »Das ist ja gerade der Trick, Craven«, brüllte er triumphierend. »Er könnte es, aber er will es nicht. Dann würde nämlich seine kleine Freundin mit dran glauben müssen, wissen Sie?«
Verwirrt sah ich mir die weiße Königin genauer an. Im ersten Moment erkannte ich nichts als den eisgewordenen Alptraum, den ich die ganze Zeit gesehen hatte - aber dann erhaschte ich einen Blick unter ihr Visier, und was ich dort sah, ließ mir das Blut in den Adern gerinnen.
Es war ein Mädchengesicht. Ein blasses, von dunklem Haar eingerahmtes Gesicht, dessen Augen schwarz vor Furcht geworden waren.
Sarim brüllte vor Lachen, schlug sich vergnügt auf die Oberschenkel - und bot Howard ein weiteres Mal Schach. Diesmal ging Howard für fast eine Minute zu Boden, ehe er wieder soweit bei Atem war, seinen König zurückzuziehen.
Meine Gedanken schienen sich zu überschlagen, während unter uns das ungleiche Spiel weiterging. Ich versuchte erst gar nicht darüber nachzudenken, wer diese Frau war oder was Howard mit ihr zu schaffen hatte. Wer immer sie war, schien sie ihm wichtig genug, sein eigenes Leben und das unsere zu opfern, um sie zu retten. Das mußte ich akzeptieren.
Und de Laurec nutzte es gnadenlos aus. Seine Dame huschte in Zügen, die einem auch nur mittelmäßigen Schachspieler die Tränen in die Augen getrieben hätten, über das Feld, jagten Howards König hierhin und dorthin und scheuchte praktisch im Vorbeigehen noch seinen Springer umher. Vor den Fenstern tobte das Gewitter immer heftiger. Blitze warfen zuckende Reflexe in die Halle.
Aber Howard gab nicht auf. Er krümmte sich ununterbrochen vor Schmerz und Schwäche - aber er spielte wie ein junger Gott. Immer wieder griff sein Springer an, bedrohte de Laurecs König und zwang seine Dame so, das Kesseltreiben auf seinen eigenen König wenigstens für eine Weile zu unterbrechen.
Schließlich brachte er sogar das Kunststück fertig, de Laurecs verbliebenen Springer in eine Falle zu locken und zu schlagen.
Sarim de Laurec bekam einen Lachanfall.
»Phantastisch, Bruder, phantastisch!« brüllte er, wobei er aus Leibeskräften applaudierte und sich zwischendurch die Tränen aus den Augen wischte. »Du spielst wirklich gut. Wenn nur diese dumme, dumme Dame nicht wäre, wie?« Und damit bot er Howard abermals Schach.
Ich glaubte den Schmerz zu spüren, der Howards Körper schüttelte, als ihn der elektrische Blitz traf. Verzweifelt starrte ich auf das Schachbrett und die gigantischen Figuren hinunter. Meine Gedanken überschlugen sich. Wenn ich ihm nur helfen könnte! Aber ich konnte nicht gegen Maschinen kämpfen. Meine magischen Kräfte, die mich schon mehrmals aus brenzligen Situationen herausgeholt hatten, versagten hier. Geistlose Maschinen waren gegen Hypnose ziemlich immun.
Aber ich war verzweifelt genug, es zu versuchen. Wenn man ertrinkt, greift man sogar nach einer Seifenblase, wenn gerade kein Strohhalm bei der Hand ist.
Mit aller Macht konzentrierte ich mich, starrte den weißen König an und fühlte ... nichts.
Natürlich nichts. Was hatte ich erwartet? Die einzigen Lebewesen dort unten waren Howard und de Laurec. Alles andere waren Maschinen.
Die einzigen Lebewesen?
Es dauerte eine endlose Sekunde, bis ich begriff. Wie in einer blitzartigen Vision sah ich noch einmal das glatte, so täuschend echte Gesicht Eisenzahns vor mir, spürte noch einmal den Unglauben, als ich begriff, daß er kein Lebewesen war, sondern ein Automat ...
Und dann dauerte es noch einmal eine Sekunde, bis ich meinen Schrecken überwand und mich nach vorne warf; so heftig, daß die steinerne Brüstung unter meinem Anprall bebte.
»Howard!« schrie ich mit überschnappender Stimme. »Die Dame! Vernichte die Dame. Sie ist eine Maschine.«
Meine Stimme ging fast im Bersten eines weiteren, gewaltigen Donnerschlages unter, aber Sarim fuhr trotzdem mit einem wütenden Zischen herum, und auch Howard erstarrte für eine endlose Sekunde. Dann flammten seine Augen auf, und ein grauenhafter Schrei brach über seine Lippen.
»Craven!« brüllte de Laurec. »Halten Sie sich raus, oder -«
»Springer B8 auf C6«, sagte Howard laut. »Schach!« Sarim fluchte, starrte mich einen Moment haßerfüllt an und wirbelte dann herum. »König E5 auf E6«, sagte er. »Das nutzt dir nichts mehr, Howard. Gib auf.«
»Springer C6 auf D4«, erwiderte Howard. »Schach.« De Laurec fluchte noch lauter, ballte die Fäuste und starrte zu mir herauf, als wolle er mich mit Blicken töten. »König E6 auf E7«, sagte er. »Was soll das, Howard? Du bekommst mich nicht.«
»Nein?« fragte Howard kalt. Von seiner Schwäche war nichts mehr geblieben. Hoch aufgerichtet stand er da und starrte abwechselnd de Laurec und seinen König an. Aber seine Stimme bebte, als er weitersprach. »Vielleicht habe ich dich schon, Bruder. Auf diesen Zug bist du schon vor zehn Jahren immer wieder hereingefallen. Wie ich sehe, hast du nichts dazugelernt.« Er hob die Hand und deutete auf seinen Springer.
»Springer D4 auf F5, Sarim. Schach und Gardez.« Seine Figur führte den Zug gehorsam aus, und de Laurec stieß einen gellenden Wutschrei aus, als zwei dünne, knisternde Blitze aus den Augen des Stahlpferdes schossen und seinen König und seine Dame gleichzeitig trafen. Von draußen ertönte ein ungeheuerlicher Donnerschlag, wie um seine Worte zu unterstreichen.
»Damit kommst du nicht durch, Howard«, kreischte Sarim. »Du betrügst! Es war nicht vereinbart, daß dir irgend jemand helfen darf.«
»Dein Zug!« sagte Howard kalt.
De Laurec starrte ihn eine endlose Sekunde lang an. Dann lächelte er wieder. »Was glaubst du, gewonnen zu haben?« fragte er schließlich. »Ich gebe zu, daß ich beim nächsten Zug meine Dame verliere - aber damit steht das Spiel allerhöchstens unentschieden. Es war ausgemacht, daß du gewinnen mußt.«
»Du betrügst«, stellte Howard fest. »Ich hätte es mir denken können. Du hast schon immer gerne betrogen.«
»Schweig!« brüllte de Laurec. »Es spielt keine Rolle mehr, ob ich betrüge oder nicht. Ihr werdet so oder so sterben.« Er kicherte, hob den Arm und deutete auf seinen König. »E7 auf E8«, sagte er. »Nimm dir die Dame, wenn es dir Freude bereitet. Du verlierst trotzdem.«