Howard schlug seine Dame. Die gewaltige Stahlkreatur verging in einem grellen Blitz, der auch Howards Springer zerfetzte, aber de Laurecs Reaktion bestand in einem abfälligen Verziehen der Lippen.
»Bravo, Howard«, sagte er kalt. »Mein Kompliment. Du hast phantastisch gespielt. Aus diesem Grunde gewähre ich dir sogar eine weitere Gnade - du darfst noch leben und zusehen, wie deine Freunde sterben - allen voran dieser Narr Craven.«
Und in diesem Moment erwachten die riesigen Schachfiguren abermals zum Leben.
Ich hörte einen Schrei, wirbelte herum und sah, wie Looskamp auf Händen und Füßen die Treppe hinaufzukriechen begann, verfolgt von einem Ding, das wie der Alptraum eines Eisenskorpions aussah. Auch von der anderen Seite her rückten die gigantischen Killermaschinen heran.
Die Templer wichen zurück, zogen ihre Schwerter blank und bildeten einen dicht geschlossenen Kreis um Balestrano und mich. Nicht, daß es etwas nutzen würde. Eine einzige dieser Maschinen mußte reichen, uns alle zu töten. Und wir standen gleich dreißig dieser stählernen Monster gegenüber. Langsam, aber unaufhaltsam, rückten sie näher.
»Jetzt sterbt ihr«, kreischte de Laurec. »Ihr habt euch zu früh gefreut. Der Sieg ist mein!«
Ich starrte den näherrückenden Maschinen entgegen, schätzte hastig die Zeit ab, die mir noch blieb, und warf einen letzten Blick in die Halle hinunter. De Laurec sah mich direkt an. Vielleicht wäre dies der richtige Moment für eine theatralische - oder auch nur hämische - Bemerkung gewesen, aber dazu fehlte mir die Zeit.
Ich stieß Balestrano und den Templer, der vor ihm stand, zur Seite, sprang den Schachmördern entgegen und riß beide Arme in die Höhe. Meine Lippen formten Worte, die ich vor Jahren auswendig gelernt und schon fast wieder vergessen hatte, und mein Geist tat Dinge, die ich selbst nicht wirklich verstand und die ich im Grunde niemals hatte können wollen.
Aber sie wirkten.
Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, eins mit dem tobenden Gewitter draußen über dem Land zu sein, keinen Körper zu haben, sondern nur noch aus pulsierender, berstender Kraft und Licht und Hitze zu bestehen, dann -
Ein unglaublicher Donnerschlag ließ das Gebäude erzittern.
Die elektrische Beleuchtung erlosch. Knallend zerbarsten die Glühbirnen, und einer der Kronleuchter brach aus seiner Halterung und stürzte zu Boden. Blaue, zischende Elmsfeuer rasten durch den Saal, sprangen über Steine und Menschen und Metall und erloschen. Dann explodierten die Fensterscheiben. Alle auf einmal und nach innen.
Ein grellweißer Blitz zuckte durch eines der zerborstenen Fenster herein, schlug in den Boden und raste in irrsinnigem Zickzack durch die Halle, um die Maschinenmenschen zu treffen und zu weißglühendem Schrott zu verschmelzen.
Aber davon merkte ich schon nichts mehr. Ich verlor das Bewußtsein und ging zu Boden. Allmählich bekam ich auch darin Routine.
Diesmal dauerte es Stunden, bis ich erwachte. Ich lag auf einer Couch in einem kleinen, behaglich eingerichteten Salon, und das erste, was ich sah, war das ausgeglühte Skelett eines elektrischen Kronleuchters, der über mir an der Decke pendelte. Dann regte sich etwas neben mir, und als ich den Kopf wandte, erkannte ich das faltenzerfurchte Gesicht Jean Balestranos. In seinen Augen stand eine Mischung aus vorsichtiger Erleichterung - und Angst.
Angst vor mir, dachte ich düster. Es war nicht das erste Mal, daß ich diesen Ausdruck in den Augen eines Menschen las. Aber bei Balestrano tat er besonders weh.
»Sind wir schon alle tot und im Himmel, oder leben wir noch?« fragte ich. Meine Stimme klang fremd in meinen eigenen Ohren. Eher wie ein Krächzen.
Balestrano lächelte flüchtig und wurde sofort wieder ernst. »Wir leben noch, Robert«, sagte er. »Dank Ihnen.«
Ich erwiderte sein Lächeln, versuchte mich aufzusetzen und sank stöhnend wieder zurück, als sich das Zimmer um mich herum zu drehen begann.
»Überanstrengen Sie sich nicht«, sagte Balestrano sanft. »Sie haben sehr viel Kraft verbraucht.« Er schwieg einen Moment, seufzte tief und hörbar und sah mich wieder mit einer Mischung aus Freundlichkeit und mühsam unterdrückter Angst an.
»Ich will gar nicht wissen, was Sie getan haben, Robert«, sagte er ernst. »Aber was immer es war, ich danke Ihnen. Ohne Sie wären wir tot.«
»Es war kein -« Ich bemühte mich, das Wort spöttisch klingen zu lassen. »- Teufelswerk, wenn Sie das meinen, Balestrano, sondern -«
»Ich will es nicht wissen«, sagte er noch einmal, und diesmal so scharf, daß ich unwillkürlich aufsah.
»Warum?« fragte ich. »Können Sie es nicht mit Ihrem Gewissen vereinbaren, sich von den Mächten des Lebens retten zu lassen, die Sie bekämpfen? Ich habe so wenig mit dem Satan zu tun wie Sie.«
»Ich weiß«, antwortete Balestrano. »Und jetzt hören Sie auf davon, Robert. Wir haben später Zeit genug, uns über alles zu unterhalten. Vorerst werde ich dafür sorgen, daß Sie und Ihr Freund Rowlf gesund gepflegt werden und Sie wieder zu Kräften kommen. Das ist das mindeste, was ich Ihnen schulde.«
»Nein, Balestrano«, sagte ich leise. »Sie schulden mir mehr.«
Balestrano schwieg, aber sein Stirnrunzeln vertieften sich.
»Ich habe Ihnen das Leben gerettet«, fuhr ich fort. »Ihnen und jedem einzelnen Mann in Ihrer Begleitung. Vielleicht habe ich sogar Ihren ganzen verdammten Orden vor dem Untergang gerettet, und das wissen Sie. Mit einem Dankeschön allein kommen Sie mir nicht davon.«
Es dauerte lange, bis Balestrano antwortete. »Und was verlangen Sie?« fragte er, obwohl er die Antwort so gut kannte wie ich.
»Howard«, sagte ich. »Sie werden Howard in Ruhe lassen. Ich brauche Ihre Pflege nicht, so wenig wie Ihre Dankbarkeit. Alles, was ich verlange, sind frische Kleider und eine Kutsche, die uns zurück nach Paris und zum Bahnhof bringt. Howard und Rowlf und ich fahren noch heute zurück nach London. Und Sie werden diese teuflische Menschenjagd abblasen, die Sie seit zehn Jahren veranstaltet haben.«
Balestrano antwortete nicht, sondern sah mich nur weiter ernst und voller Trauer an. Aber es war auch nicht nötig, daß er irgend etwas sagte. Ich las die Antwort in seinen Augen. Jean Balestrano war ein mächtiger Mann, und er war ein harter Mann. Vielleicht der härteste und mächtigste Mann, der in diesem Teil der Welt lebte. Aber er war auch ein Ehrenmann.
Ich wußte, daß er seine Schuld begleichen würde.
Aber ich war mir nicht sicher, ob wir noch Freunde sein würden, wenn wir uns das nächste Mal trafen.
Lady Audley McPhearson sah an diesem Abend ganz besonders attraktiv aus - soweit eine grauhaarige, etwas zu kurzbeinig geratene Matrone, deren Körpergewicht sich dem zweiten Zentner zuneigte und die ihrem sechzigsten Geburtstag näher war als dem fünfzigsten, attraktiv auszusehen vermag. Aber das Kleid, das sie trug, war das mit Abstand teuerste und aufwendigste, das mir jemals untergekommen war, und das Saphirdiadem in ihrem hochtoupierten Haar mußte ungefähr dem Gegenwert einer mittleren englischen Ortschaft entsprechen. Ihre Stimme übertönte den Lärm der Gäste, die den gewaltigen Ballsaal von Penderguest Hall füllten, mit Leichtigkeit.
Ich hatte ihr Lachen schon draußen in der Halle gehört und hätte eigentlich gewarnt sein müssen. Aber ich war leichtsinnig genug gewesen, mir einzubilden, irgendwo in der Menge untertauchen und ihr auf diese Weise entgehen zu können. Jetzt war es zu spät, mich noch unauffällig zurückzuziehen.
Lady Audley hatte mich bereits entdeckt und walzte, mit ihrem gewaltigen Busen die Menge wie ein Schlachtschiff beiseite pflügend, auf uns zu. Auf ihrem Gesicht lag ein rosiger, verräterischer Glanz, der darauf schließen ließ, daß das Glas Champagner in ihrer Rechten nicht das erste an diesem Abend war.