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»Robert!« rief sie, den Vortrag des Violinsolisten auf der Orchesterempore mit Leichtigkeit übertönend, stürmte auf mich zu, schloß mich in die Arme und drückte mir einen ebenso herzhaften wie feuchten Kuß auf die Wange. »Robert! Mein lieber Robert Craven!« sagte sie. »Wie schön, daß Sie uns die Ehre geben. Lord Penderguest sagte mir bereits, daß Sie für den heutigen Abend zugesagt haben.«

Sie entließ mich endlich aus ihrer Umarmung, trat einen Schritt zurück und musterte mich von Kopf bis Fuß. Ihre kleinen, von zahllosen Krähenfüßchen eingefaßten Augen funkelten. »Sie werden uns doch das Vergnügen bereiten, uns an einer ihrer entzückenden Seancen teilnehmen zu lassen, oder?« fragte sie.

Ich rang mich zu einem Lächeln durch, verbeugte mich und sagte: »Dazu bin ich hier, Mylady.«

»Oh, wie entzückend!« sagte Lady Audley. »Damit ist der Erfolg des heutigen Abends ja gesichert.« Sie nippte an ihrem Glas, wobei sie den kleinen Finger übertrieben abspreizte, und deutete auf Howard, der neben mir stehengeblieben war und die kurze Szene mit einer Mischung aus Verwirrung und mühsam zurückgehaltener Erheiterung verfolgt hatte.

»Sie haben Besuch mitgebracht, Robert? Wie entzückend.«

»Ja. Ein -« Ich brach ab, als ich einen raschen, warnenden Blick aus Howards Augen auffing, rettete mich in ein verlegenes Lächeln und begann mit einer Handbewegung auf Howard erneut: »Ein entfernter Verwandter, Lady Audley. Mister ... Phillips.« Gottlob überhörte sie das unmerkliche Stocken in meinen Worten, als ich Howard vorstellte. Aber er hatte mich gebeten, seinen wahren Namen nicht zu nennen, aus ganz persönlichen Gründen, wie er sich ausgedrückt hatte - ohne mir indes auch nur mit einer Silbe zu verraten, was diese, persönlichen Gründe denn nun waren.

»Phillips?« Lady Audley blinzelte. »Sind Sie Engländer, Mister Phillips?«

Howard schüttelte rasch den Kopf. »Amerikaner, Lady Audley. Aber ich lebe nicht mehr drüben in den Staaten. Schon lange nicht mehr.«

»Amerikaner?« wiederholte Lady Audley. »Nein, wie entzückend!« Sie kicherte, leerte ihr Champagnerglas und angelte mit einer grazilen Bewegung ein neues vom Tablett eines vorübereilenden Kellners. »Darüber müssen Sie mir unbedingt mehr erzählen, Mister Phillips. Wir sehen uns sicher noch; später bei Roberts Seance.«

Lady Audley blinzelte, nickte uns noch einmal zu und verschwand dann wieder in der Menge.

»Entzückend«, sagte Howard kopfschüttelnd. Ein dünnes, schwer zu deutendes Lächeln spielte um seine Lippen. »Wer ist sie?«

»Lady Audley? Ein ... Original, würdest du wohl sagen. Der letzte Sproß irgendeines aussterbenden Adelsgeschlechtes, glaube ich. Ein bißchen verrückt, aber sehr nett.«

Ein livrierter Kellner kam auf uns zu und hielt uns ein Tablett mit Champagnergläsern entgegen. Ich nickte dankend, nahm eines der Gläser und trank einen kleinen Schluck, während Howard mit einem raschen Kopfschütteln ablehnte.

»Laß uns irgendwo hingehen, wo wir reden können«, sagte er plötzlich. »In Ruhe.«

Das war leichter gesagt als getan. Der Ballsaal von Penderguest Hall ist einer der größten Londons, so wie die Empfänge, die Sir und Lady Penderguest in regelmäßigen Abständen zu geben pflegten, die beliebtesten und wahrscheinlich bestbesuchten sind. Ich schätzte, daß sich allein hier im Saal an die zweihundert Personen aufhielten - Aristokratie, Geldadel, der eine oder andere Künstler, den man zu-kennen-hatte, ein paar hohe Regierungsangehörige. Und in den angrenzenden Räumen mußte sich noch einmal die gleiche Anzahl Gäste aufhalten.

Trotzdem entdeckte ich nach kurzem Suchen eine wenigstens einigermaßen abgeschiedene Ecke unter einem der Fenster, eine winzige, von Pflanzenkübel und wucherndem Grün eingefaßten Oase der Ruhe: zwei kleine Sesselchen, zwischen denen ein dreibeiniger Tisch stand. Ich deutete mit einer Kopfbewegung darauf und ging voraus.

»Was hat Lady Audley gemeint, als sie von einer Seance sprach?« begann Howard, kaum daß wir uns gesetzt hatten. Das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden. Seine Züge wirkten beinahe ausdruckslos, aber in seinen Augen stand ein Ernst, den ich nur zu gut kannte. Ich hatte diesen Moment gefürchtet, seit ich vor Wochenfrist die Einladung der Penderguests bekommen hatte.

»Eine kleine Belustigung, die die Penderguests ihren Lieblingsgästen bieten«, antwortete ich. »Ein harmloser Spaß, mehr nicht.«

»Und du ... spielst eine Rolle bei diesem ... harmlosen Spaß?« fragte er gedehnt.

Diesmal dauerte es einen Moment, ehe ich antwortete. Es war eine Menge geschehen, seit ich das Erbe meines Vaters angetreten hatte und damit praktisch über Nacht zu einem der wohlhabendsten Bürger Londons geworden war. Ich hatte mich eingelebt und - zwar keine wirklichen Freunde gefunden - aber doch eine Menge Bekanntschaften geknüpft und mir einen gewissen Ruf in der Londoner Plüsch-Gesellschaft: erworben, und davon wußte er so gut wie nichts. Und ich war ziemlich sicher, daß ihm eine Menge von diesem Nichts nicht gefallen würde. Manchmal, dachte ich, war es schon ein Kreuz, einen Freund wie Howard zu haben, der versuchte, gleichzeitig Mentor, Schutzengel und Vaterersatz zu sein ...

»Es ist wirklich nichts als ein harmloser Spaß«, sagte ich lächelnd. »Seancen und spiritistische Sitzungen sind in der letzten Zeit in Mode gekommen, weißt du?«

»Und du nimmst daran teil?« vergewisserte sich Howard. »Nur so, oder als Medium?«

»Letzteres«, bekannte ich kleinlaut. »Aber glaube mir, Howard, es ist wirklich -«

Ich sprach nicht weiter, als ich sah, wie sich seine Züge verfinsterten. Für einen Moment hatte er wirklich Mühe, sich noch zu beherrschen und mich nicht anzufahren; das sah ich. In seinen Augen blitzte es. Ich hatte ihn gebeten, mich zu begleiten, einfach weil ich es für eine gute Idee hielt, ein wenig harmloser Zerstreuung. Aber ich hatte plötzlich das sichere Gefühl, daß es kein besonders guter Einfall gewesen war.

Einerseits konnte ich Howard ja sogar verstehen - schließlich war er einer der wenigen Menschen, die mein Geheimnis kannten; und auch den Fluch, der mein Leben überschattete, seit ich das Erbe meines Vaters angetreten hatte. Meines Vaters, der ein leibhaftiger Hexer gewesen war, und der mir nicht nur ein erkleckliches Vermögen und einen ungeheuren Schatz an okkultem Wissen, sondern auch einen Gutteil seiner eigenen, magischen Fähigkeiten hinterlassen hatte. Kräfte, die ich längst noch nicht in vollem Umfang zu nutzen wußte - und auch nicht wollte, denn sie machten mir Angst. Aber verdammt, das hier hatte nichts mit echter Magie zu tun, sondern war nur ein wenig harmloser Firlefanz. Und schließlich hatte auch ein Hexer dann und wann das Anrecht auf ein bißchen Zerstreuung!

Einen Moment lang hielt ich seinem Blick noch stand, dann erhob ich mich mit einer abrupten Bewegung und deutete auf die quirlende Menge im Saal. »Reden wir später darüber«, sagte ich ausweichend. »Die Penderguests erwarten mich.«

»Oh ja«, sagte Howard böse. »Zu deiner kleinen Zirkusvorstellung.« Er legte alle Verachtung, zu der er fähig war - und das war eine ganze Menge -, in dieses eine Wort.

Ich drehte mich demonstrativ um. Mein Blick glitt fast sehnsüchtig die geschwungene Marmortreppe am hinteren Ende des Saales hinauf. Eine der Türen auf der Galerie dort oben führte zu dem kleinen Salon, in dem Sir und Lady Penderguest mich wahrscheinlich schon ungeduldig erwarteten; unsere Seancen fanden keineswegs in aller Offenheit statt, sondern beschränkten sich auf einen kleinen, erlauchten Kreis. Aber ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob es wirklich gut war, heute abend dort hinauf zu gehen; und noch viel weniger, ob ich Howard mitnehmen sollte.

Krampfhaft versuchte ich mir eine Ausrede einfallen zu lassen, die es mir ermöglichen würde, das Bankett zu verlassen, ohne die Penderguests allzusehr vor den Kopf zu stoßen.