Aber es war zu spät. Lady Audley mußte die Nachricht von meinem Eintreffen bereits weitergegeben haben, denn noch während ich mir krampfhaft den Kopf nach einer plausiblen Ausrede zerbrach, tauchte sie in Begleitung Lady Penderguests wieder aus der Menge auf und steuerte zielsicher auf Howard und mich los.
Als ich mich diesmal zu Howard umwandte, war der Ausdruck in seinen Augen der pure Zorn. Aber er sagte nichts mehr.
Seufzend folgte ich Lady Audley. Sie selbst höchstpersönlich schloß das Zimmer hinter uns ab, nachdem der letzte Teilnehmer unser illustren Runde die kleine Bibliothek betreten hatte, und wie üblich hatten sich zwei Diener vor der Tür postiert, um dafür zu sorgen, daß wir auch wirklich nicht gestört wurden.
Howard und ich nahmen nebeneinander an dem großen, runden Tisch Platz, der zusammen mit den dazugehörigen Stühlen die gesamte Einrichtung des Raumes bildete. Er hatte kein Wort mehr mit mir gesprochen, seit unserer Beinahe-Auseinandersetzung unten im Saal. Und er wich auch meinem Blick aus. Trotzdem war ich froh, daß er geblieben war. Er würde rasch begreifen, daß es sich wirklich nur um einen harmlosen Hokuspokus handelte.
Lady Penderguest löschte nacheinander die Kandelaber, die an den Wänden brannten, und der Raum versank in schattigem Halbdunkel. Schließlich brannte nur noch eine einzige, matte Gaslampe und tauchte den Tisch in eine Insel gelblicher Helligkeit, die an den Rändern verschwamm und alles, was jenseits ihrer Grenzen lag, zu schemenhaften Schatten verblassen ließ.
Wir warteten, bis Lady Penderguest auf dem letzten verbliebenen Stuhl Platz genommen hatte und wie üblich mit einem leisen Nicken das Zeichen zum Anfangen gab. Schweigend ergriffen wir uns bei den Händen und bildeten so einen großen, allseits geschlossenen Kreis. Selbst Howard ergriff, wenn auch mit säuerlicher Miene und einem Ausdruck in den Augen, der irgendwo zwischen blanker Wut und mühsam unterdrücktem Spott schwankte, meine und die Hand seines Nebenmannes, lehnte sich zurück und tat wenigstens so, als würde er die Augen schließen und sich konzentrieren.
Etwas war anders als sonst.
Nach einer Weile begann Lady Audley, die wie immer mit der größten Begeisterung bei der Sache war, leicht mit dem Oberkörper hin und her zu schwingen und leise, summende Töne auszustoßen, und nach weiteren Sekunden fiel auch Lady Penderguest darin ein - sie war immer die nächste, die in »Trance« fiel, denn sie war fast mit der gleichen Begeisterung bei der Sache und brauchte lediglich einen Vorreiter, der ihr Mut machte und sie der Peinlichkeit enthob, als erste zu beginnen.
Aber etwas war nicht so wie sonst.
Ich spürte, wie eine kribbelnde Stimmung lustvollen Grauens von der Versammlung Besitz ergriff, wie stets bei diesen spiritistischen Sitzungen, aber das war nicht alles. Bisher waren diese Seancen nichts als ein harmloser Spaß gewesen, den die allerwenigsten Beteiligten wirklich ernst nahmen. Diesmal war ... etwas Fremdes dabei.
Ich hatte Mühe, nicht zusammenzuschrecken und den Kreis zu unterbrechen, als ich es spürte. Erschrocken fuhr ich zusammen, wandte rasch den Blick und sah Howard an.
Auch der Ausdruck auf seinen Zügen hatte sich verändert. Der abfällige Spott in seinen Augen war verschwunden und hatte einem Ausdruck ungläubigen Staunens - gepaart mit einer ganz leisen Spur von Furcht - Platz gemacht. Seine Lippen bebten.
Aber ich las auch die mißtrauische Frage in seinem Blick. Rasch und so, daß nur Howard die Bewegung sehen konnte, schüttelte ich den Kopf und deutete auf Lady Audley. Er nickte, wie ich auch nur mit den Augen. Er hatte verstanden, daß das, was hier geschah, auch mir neu und unheimlich sein mußte.
Die grauhaarige Aristokratin hatte aufgehört, sich hin und her zu wiegen und zu summen. Trotz des schwachen Lichtes konnte ich erkennen, daß ihr Gesicht alle Farbe verloren hatte. Ihre Wangenmuskeln waren gespannt, so fest, als presse sie die Kiefer mit aller Macht aufeinander, und auf ihrer Stirn glitzerte feiner Schweiß.
Plötzlich begannen ihre Lippen zu beben. Ein röchelnder, unheimlicher Ton drang aus ihrer Brust.
»Ja - N’ghy n’ghya«, keuchte sie. »Näthägn oa Shub-Niggurath, näfthfath whaggha nagll.«
Howard fuhr wie unter einem Peitschenhieb zusammen und sprang auf, so heftig, daß sein Stuhl umkippte und rücklings auf dem Boden schlug.
Lady Penderguest, die direkt neben Lady Audley saß, schrie gellend auf, prallte zurück und riß ihre Hand aus der Lady Audleys, und auch die anderen Beteiligten fuhren mit einem entsetzten Keuchen hoch, schrien auf oder erstarrten auf ihren Plätzen vor Schreck.
Aber es waren nicht die fürchterlichen, unmenschlichen Laute, die den Kreis auf so abrupte Weise gesprengt hatten!
Im gleichen Moment, in dem Lady Audleys Lippen begonnen hatten, jene unmenschlichen Lautballungen zu bilden, hatte sich das Licht verändert. Der gelbliche Schein flackerte, war plötzlich von etwas Grünem, Ungreifbarem durchdrungen, und von einer Sekunde auf die andere erfüllte ein geradezu bestialischer Gestank den Raum.
Lady Audley begann zu wimmern. Ihre Lider flogen mit einem Ruck auf, aber der Blick ihrer Augen war trüb vor Entsetzen; sie sah nicht uns, sondern schien etwas unglaublich Schreckliches zu erblicken.
»Cindy!« wimmerte sie. »Cindy!« Und dann, noch einmal und so gellend und spitz, daß der Schrei mir schier das Blut in den Adern gerinnen ließ: »Cindy!«
Etwas Unheimliches geschah. Die fürchterliche Grünfärbung des Lichtes vertiefte sich, und plötzlich tanzte etwas Bleiches, formlos Weißes wie transparenter Nebel in der Mitte der Tischplatte. Jemand schrie, Stühle polterten, und zwei, drei Personen sprangen in Panik auf und stürzten zur Tür, konnten sie aber nicht öffnen.
Ich starrte weiter auf das tanzende weiße Etwas, das wie Nebel über dem Tisch wallte und wogte. Plötzlich wurde es kalt, schneidend kalt, und mit einem Male streifte mich ein eisiger moderiger Luftzug, wie der Hauch aus einem Grab.
Dann ballte sich der Nebel zusammen, wuchs in Augenblicken zu einer zwei Meter hohen, flackernden Säule aus wirbelndem Weiß und reiner Bewegung -
und formte sich zu einer menschlichen Gestalt!
»Cindy!« brüllte Lady Audley. Ihre Stimme brach, schnappte über und wurde zu einem hellen, fürchterlichen Kreischen. Ihre Augen schienen vor Entsetzen fast aus den Höhlen zu quellen, während sie auf die flackernde, halbdurchsichtige Mädchengestalt starrte, zu der sich die Ektoplasmawolke geformt hatte.
Lady Audley begann zu kreischen. Sie prallte zurück, hob die Hände, wie um sie vor das Gesicht zu schlagen, führte die Bewegung jedoch nicht zu Ende, sondern starrte mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht auf die durchsichtige Mädchengestalt. Dann geschah etwas Furchtbares. Es ging unglaublich schnell, so rasch wie das Senken und Heben eines Augenlides, und außer Howard und mir erkannte wohl niemand seine wahre Bedeutung.
Unter der Gestalt, auf grausame Weise irgendwie im Inneren der massiven Tischplatte, erschien etwas Schwarzes, Waberndes, ein Klumpen formlos glitzernder ... Dinge, die sich wanden und zuckten und bebten. Ein peitschender, schleimig-schwarzer Arm zuckte wie eine glitzernde Schlange empor, drang durch den Nebelkörper des Mädchens und riß ihn mit einer unglaublich harten Bewegung auseinander, so rasch und plötzlich, wie ein Sturmböe den Morgennebel zerreißt. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich einen Schrei zu hören, einen Schrei so voller Entsetzen und Furcht, wie ich ihn noch nie zuvor in meinem Leben vernommen hatte. Dann verstummte er. Der Nebelkörper und das schwarze Ding in der Tischplatte waren verschwunden, und plötzlich war das Licht wieder normal.
Lady Audley kreischte noch einmal, schlug die Hände vor die Augen und kippte mitsamt ihrem Stuhl nach hinten. Zwei andere Frauen begannen hysterisch zu schreien, während der grauhaarige Mann in der Uniform eines Marineadmirals neben Howard kurzerhand in Ohnmacht fiel.