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Howard war der erste, der die Lähmung überwand. Mit zwei, drei hastigen Schritten war er um den Tisch herum und kniete neben Lady Audley nieder.

Im gleichen Moment brach in der kleinen Bibliothek endgültig eine Panik aus.

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sich Lady Audley wieder so weit beruhigt hatte, daß sie in der Lage war, einen zusammenhängenden Satz zu sprechen und auf Fragen zu antworten.

Howard, ich und einer der anderen männlichen Gäste hatten ihre annähernd zwei Zentner in einen kleinen, an die Bibliothek angrenzenden Nebenraum geschleppt und sie auf eine Chaiselongue gebettet, wo sie die ersten zehn Minuten wie gelähmt dagelegen hatte, zitternd, mit starren, weit aufgerissenen Augen und immer wieder kleine, keuchende Laute ausstoßend.

Während sich Howard und Lady Penderguest um sie bemühten, war ich in die Bibliothek zurückgegangen und hatte eine Weile ernst mit Sir Penderguest gesprochen. Es war nicht sehr fair, was ich ihm sagte, und obwohl er meine Worte mit steinerner Miene zur Kenntnis nahm, verriet mir der Ausdruck in seinen Augen doch, daß dieses Gespräch unserem guten Verhältnis einen gehörigen Knacks versetzt hatte.

Aber es wirkte. Sir Henry Penderguest war bleich und verstört, als ich mich herumdrehte, um zu Howard und Lady Audley zurückzugehen, aber ich wußte, daß er dafür sorgen würde, daß nichts von dem, was während dieser Seance geschehen war, bekannt wurde.

Howard sah auf, als ich den Raum betrat und die Tür hinter mir zuzog. In seinen Augen glomm eine stumme Frage auf.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte ich rasch. »Niemand wird etwas erfahren. Jedenfalls vorerst nicht.«

Lady Penderguest, die auf der anderen Seite der Chaiselongue Platz genommen hatte und Lady Audleys Hand hielt, sah erstaunt auf, aber ich ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen, sondern öffnete die Tür noch einmal und machte eine eindeutige Bewegung mit der Hand.

»Es wäre sehr freundlich, wenn Sie uns einen Moment mit Lady Audley allein ließen, Lady Penderguest«, sagte ich, in einem Ton, der die höfliche Wahl meiner Worte zu blankem Hohn degradierte. Lady Penderguest erbleichte, bedachte mich mit einem Blick, der einen Eisberg zum Schmelzen gebracht hätte, und rauschte beleidigt hinaus. Rasch schloß ich die Tür hinter ihr, ging zu Howard hinüber und ließ mich neben Lady Audley auf die Knie sinken. Ihre Augen waren geöffnet, aber ich hatte das Gefühl, daß ihr Blick geradewegs durch mich hindurch ging. In ihren Pupillen flackerte etwas, das mich an den Ausdruck in den Augen einer Wahnsinnigen erinnerte. Was immer sie gesehen hatte, mußte ihren Geist dicht an den Rand des Wahnsinns getrieben haben. Vielleicht darüber hinaus.

»Bist du sicher, daß niemand etwas sagen wird?« erkundigte sich Howard.

Ich nickte, ohne zu ihm aufzublicken. »Vollkommen sicher«, antwortete ich. »Die Penderguests würden sich eher erschießen, ehe sie auch nur ein Wort von dem, was hier vorgefallen ist, verlauten ließen.«

»Was hast du ihnen gesagt?« fragte Howard.

Ich zuckte mit den Achseln und preßte ärgerlich die Lippen aufeinander. »Spielt das jetzt noch eine Rolle?« fragte ich. »Ich weiß nur, daß ich seit zehn Minuten zwei Freunde weniger habe. Hat sie etwas gesagt?«

»Lady Audley?« Howard verneinte. »Noch nicht. Ich fürchte, wir werden einen Arzt rufen müssen. Sie hat einen Schock erlitten.«

»Ich weiß«, antwortete ich. Besorgt sah ich auf Lady Audleys bleiches Gesicht hinunter. Sie schien zu phantasieren, und ihre Haut glänzte unnatürlich, wie weißer Wachs. Zögernd griff ich nach ihrer Hand, legte die linke auf ihre Stirn und versuchte, ein Schaudern zu unterdrücken, als ich spürte, wie eisig ihre Haut war. Ihr Puls jagte, aber gleichzeitig ging ihr Atem sonderbar flach, und ihre Finger zuckten in unregelmäßigen Abständen. Aber als sie die Augen öffnete, war ihr Blick klar.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte ich. »Besser?«

Lady Audley schien meine Worte überhaupt nicht zu hören. Sie antwortete nicht, sondern starrte mich nur aus ungläubig aufgerissenen Augen an. Ihre Lippen bebten.

»Gütiger Gott!« flüsterte sie. »Was ... ist ... passiert?«

Ich wollte antworten, aber Howard unterbrach mich mit einer befehlenden Geste und beugte sich zu Lady Audley herab. »Sie hatten einen Schwächeanfall«, sagte er. »Erinnern Sie sich, was geschehen ist?« Er lächelte, aber seine Stimme klang sehr ernst, als er weitersprach: »Bitte, Lady Audley - es ist wichtig. Sehr wichtig.«

Lady Audley zuckte zusammen wie unter einem Hieb. Wieder flammte für einen Moment ein schwacher Schimmer ungläubigen Entsetzens in ihrem Blick auf. Aber diesmal hatte sie sich besser in der Gewalt.

Sie nickte, sehr knapp und mit einer abgehackten, mühevoll wirkenden Bewegung, fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und versuchte sich aufzurichten.

»Ich ... erinnere mich«, murmelte sie verstört.

Howard atmete hörbar ein. »Lady Audley«, begann er, »ich kann mir vorstellen, wie schwer es für Sie sein muß, aber ich möchte Sie bitten, mir ... das heißt, uns - ein paar Fragen zu beantworten.«

»Fragen?« murmelte Lady Audley verstört. »Was für ... Fragen? Wer ... wer sind Sie überhaupt, und was ... was wollen Sie von mir?«

Ihre Stimme zitterte, und ich spürte, daß sie erneut kurz davor stand, die Beherrschung zu verlieren.

»Sie haben einen Namen gerufen, Lady Audley«, sagte ich leise. »Erinnern Sie sich? Cindy. Sie haben ein paarmal Cindy gerufen.«

»Cindy ...« wiederholte sie leise. Ihr Blick verschleierte sich, und plötzlich glitzerten Tränen in ihren Augen. Aber sie beherrschte sich noch immer und kämpfte das Schluchzen, das aus ihrer Kehle emporsteigen wollte, mit aller Kraft zurück.

»Dieses Mädchen«, sagte Howard vorsichtig. »Diese ... Erscheinung - war das Cindy?«

Lady Audley sah mit einem Ruck auf. »Sie ... Sie haben sie auch gesehen?« flüsterte sie. »Sie war wirklich da? Sie haben sie wie ich gesehen?«

»Wir haben sie gesehen«, bestätigte Howard. »Und alle anderen in der Bibliothek auch.« Seine Stimmte bebte vor Ungeduld. Ich warf ihm einen raschen, warnenden Blick zu, richtete mich ein wenig auf und griff noch einmal nach Lady Audleys Hand.

»Es war keine Halluzination, Lady Audley«, sagte ich, so sanft, wie es mir überhaupt möglich war. »Wir alle haben sie gesehen. Wer ist dieses Mädchen?«

»Cindy«, murmelte Lady Audley wieder. Ihre Finger krampften sich plötzlich so fest um die meinen, daß es schmerzte. »Meine kleine Cindy. Sie ist ... sie war meine Nichte. Ich ... ich habe sie geliebt wie ... wie eine Tochter, und sie mich wie eine Mutter.«

»War?« erkundigte sich Howard.

Lady Audley nickte. »Sie ist tot«, schluchzte sie. »Sie ist ... gestorben. Vor zwanzig Jahren gestorben, verstehen Sie?« Ihre Augen weiteten sich, während sie abwechselnd mich und Howard anstarrte. »Sie ist tot!« flüsterte sie noch einmal.

»Was hat sie mit ihren Worten gemeint?« fragte Howard eindringlich. »Bitte, Lady Audley, versuchen Sie sich zu erinnern. Es ist wichtig! Sehr wichtig. Sie hat um Hilfe gerufen. Wer oder was bedroht sie?«

»Ich ... weiß es nicht«, schluchzte Lady Audley. »Aber sie braucht Hilfe. Sie ist in Gefahr!«

»Ich weiß«, murmelte Howard. Er schwieg einen Moment, starrte an Lady Audley vorbei ins Leere und fuhr, stockend und mit seltsam flacher, gezwungen ruhiger Stimme fort: »Sie haben ... Worte gesprochen, erinnern Sie sich? Sonderbare Worte.«

»Worte?« wiederholte Lady Audley.

»Iä - N’ghy g’ghya«, zitierte Howard aus dem Gedächtnis. »Näthägn oa Shub-Niggurath, näfthfath whaggha nagll. Erinnern Sie sich?«

»Erinnern?« Lady Audleys Lippen begannen erneut zu zittern. »Das ... das soll ich gesagt haben? Aber das ist ... das ist unmöglich. Ich soll so etwas gesagt haben? Diese furchtbaren ... Laute?«