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»Sie haben es gesagt«, bestätigte Howard. »Aber Sie erinnern sich nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie. »Alles, woran ich mich erinnere, ist ...« Sie brach ab, schwieg einen Moment und begann stärker zu zittern.

»Cindy«, schluchzte sie. »Meine arme, kleine Cindy. Wir ... wir müssen ihr helfen.« Plötzlich richtete sie sich auf, ergriff meinen Unterarm mit beiden Händen und preßte ihn mit verzweifelter Kraft. »Sie werden ihr helfen, Robert!« flehte sie. »Sie werden ihr doch helfen, oder?«

Es war Howard, der an meiner Stelle antwortete.

»Das werden wir, Lady Audley«, versprach er. »Das werden wir. Aber Sie müssen uns auch helfen. Wir müssen alles wissen, alles über Cindy und ihren Tod und -«

Ich hörte nicht mehr zu. Lady Audley antwortete mit leiser, stockender Stimme, aber ihre Worte glitten irgendwie an meinem Bewußtsein vorbei, ohne den Schleier aus Schwindel und ungläubigem Entsetzen durchdringen zu können, der sich plötzlich zwischen mich und die Wirklichkeit geschoben hatte.

Es hatte lange gedauert, bis ich wirklich begriff. Ich hätte die Worte gleich erkennen müssen, obgleich es ein gutes halbes Jahr her war, daß ich Laute wie sie zum letzten Mal gehört hatte. Aber irgend etwas in mir hatte sich dagegen gesträubt, hatte mich einfach daran gehindert, die Wahrheit zu erkennen, obwohl sie zum Greifen nahe vor mir lag.

Ich hatte es einfach nicht begreifen wollen. Meine Rückkehr nach London war mehr als eine Heimkehr gewesen. In Wahrheit war ich geflohen, davongelaufen vor einer Wirklichkeit, die zu schrecklich war, um mit ihr leben zu können.

Jetzt war der Schleier zerrissen. Die Wirklichkeit hatte mich eingeholt.

Immer wieder glaubte ich die furchtbaren Laute zu hören, die Lady Audley hervorgestoßen hatte. Geräusche, die nicht für menschliche Stimmapparate ersonnen waren, nur scheinbar sinnlose Lautzusammenballungen, deren schierer Klang schon von einem Hauch von Unheil und Grauen begleitet zu sein schien.

Aber es waren nicht nur Laute.

Es waren Worte.

Worte einer Sprache, die vor zweihundert Millionen Jahren untergegangen war, zusammen mit dem Volk, das sie gesprochen hatte.

Lord Penderguest hatte sich anerboten, Lady Audley persönlich nach Hause zu bringen, aber Howard und ich hatten darauf bestanden, dies zu übernehmen. Er hatte sich nicht lange mit uns gestritten - augenscheinlich war er mehr als froh, auf diese Weise nicht nur Lady Audley, sondern auch uns loszuwerden. Sein Blick war nicht besonders freundlich gewesen, als er uns aus dem Haus begleitete. Ich hatte das sichere Gefühl, daß ich zum nächsten Empfang in Penderguest Hall keine Einladung mehr bekommen würde.

Allerdings verschwendete ich daran im Augenblick auch kaum einen Gedanken. Howard und ich sprachen kaum ein Wort während der gesamten Fahrt zu Lady Audleys Haus, aber ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie es in seinem Inneren aussah - ähnlich wie in meinem, vermutlich.

Der Schock wirkte noch immer nach. Selbst nachdem ich rein verstandesmäßig begriffen hatte, was diese entsetzlichen Lautballungen zu bedeuten hatten, die Lady Audley in Trance ausgestoßen hatte, hatte ich noch eine ganze Weile versucht, die Augen einfach vor der Wahrheit zu verschließen.

Aber es ging nicht. Die Beweise waren zu deutlich - Lady Audleys schreckliche Worte, die formlosen, peitschenden Dinge, die das Erscheinen der Geistergestalt begleitet hatten, das wabernde grüne Licht ...

Großer Gott, und ich hatte mir eingebildet, daß alles vorüber war, nach der Vernichtung des Kristallhirnes in Amsterdam! Aber das war es nicht. Vielleicht fing es gerade erst richtig an.

Hatte ich mir wirklich eingebildet, sie geschlagen zu haben, Wesen, die zweihundertmal älter waren als die menschliche Rasse, und die die Macht von Göttern hatten? Beinahe hilfesuchend sah ich Howard an, aber er wich meinem Blick aus. Sein Gesicht war wie Stein. Nur in seinen Augen war ein schwaches Funkeln, das mich schaudern ließ.

Meine Gedanken wanderten zurück zu jenem entsetzlichen Tag vor nunmehr sechs Monaten, an dem dieser ganze Alptraum begonnen hatte.

Es war im September 1885 gewesen, daß sich mein bis dahin vielleicht etwas chaotisches, aber doch überschaubares Leben auf drastische Weise änderte, durch den Tod meines Vaters nämlich, von dessen Existenz ich bis zu diesem Moment nicht einmal etwas gewußt hatte. Ebensowenig, wie ich gewußt hatte, daß er ein leibhaftiger Hexer war - und einer der wenigen Menschen, die wußten, daß es neben unserer Welt noch eine andere gab, eine Welt der Geister und Hexen und Dämonen. Sein Leben lang hatte er gegen sie gekämpft, mit aller Macht, die ihm zur Verfügung stand, aber am Schluß hatten sie ihn besiegt.

Das alles - und vieles mehr - hatte ich indessen erst erfahren, als er in meinen Armen starb, wie durch eine grausame Ironie des Schicksales wenige Tage, nachdem ich ihn überhaupt kennengelernt hatte. Er war es gewesen, der mich nach London schickte, wo sich Howard meiner annahm, der beste Freund meines Vaters und nun mein Beschützer und Lehrmeister. Fast alles, was ich heute wußte, hatte ich von ihm erfahren.

Auch die Geschichte der GROSSEN ALTEN, jener dämonischen Rasse, die vor mehr als zweihundert Millionen Jahren von den Sternen kam und sich auf der Erde ansiedelte. Sie ging unter, wie so viele andere Lebensformen, die diesen Planeten vor uns bewohnten, aber mit Hilfe ihrer magischen Kräfte gelang es den GROSSEN ALTEN trotzdem, die Zeit zu überwinden. Ihre Körper wurden zerstört, aber ihr Geist lebte weiter. Sie lebten, eingekerkert in magischen Gefängnissen tief im Leib der Erde, und ihr ganzes Trachten galt nur einem einzigen Zweck: die unsichtbaren Fesseln abzustreifen, die sie hielten, und ihre schreckliche Herrschaft über die Erde erneut anzutreten. Nur wenige Menschen wußten überhaupt von ihrer Existenz, und noch weniger hatten jemals versucht, sie zu bekämpfen. Einer von ihnen war mein Vater gewesen. Und nach seinem Tod war ich an seine Stelle getreten.

Der Wagen bog in eine breite, still und dunkel daliegende Allee ein, und ich schrak aus meinen Gedanken hoch und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Instinktiv sah ich nach Lady Audley, die auf der gegenüberliegenden Bank saß. Sie war wach, ihre Augen standen offen, aber ihr Blick war leer und ihr Gesicht bleich wie das einer Toten.

Der Anblick erfüllte mich mit einer Mischung aus Zorn und Hilflosigkeit. Warum mußten es immer die Unschuldigen, die Ahnungslosen sein, die von den Ungeheuern aus der Vergangenheit zu willenlosen Werkzeugen gemacht wurden?

Der Wagen wurde langsamer und kam schließlich mit einem sanften Schaukeln zum Stehen. Ich schob die Gardine vor dem Fenster beiseite und sah hinaus. Wir hatten Lady Audleys Stadthaus erreicht, einen großen, von einem weitläufigen Garten eingefaßten zweistöckigen Bau, der jetzt dunkel und wie ausgestorben dalag. Nur über der Tür, zu der eine kurze Treppe hinaufführte, brannte eine kleine Gaslaterne. Aber ihr Licht schien die Dunkelheit, die über dem Haus lastete, eher noch zu betonen. Ich schauderte. Vielleicht war ich einfach nur überreizt, nach allem, was geschehen war, aber für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, etwas Finsteres, Großes in den Schatten zu sehen, als wäre die Dunkelheit selbst zu schrecklichem Leben erwacht.

Ich verscheuchte den Gedanken, öffnete den Wagenschlag und sprang mit einem Satz hinaus. Es war sehr kalt, und mir fiel erst jetzt auf, daß sich ein leichter Bodennebel gebildet hatte. Einen Moment lang sah ich mich schaudernd um, dann drehte ich mich herum und streckte die Hand aus, um Lady Audley zu helfen. Unsicher und noch immer wie jemand, der sich in Trance bewegt, kletterte sie aus der Droschke, stützte sich einen Moment schwer auf meine Schulter und stand schließlich aus eigener Kraft, wenn auch sehr schwankend.