Er brach mitten im Wort ab, stutzte, und sah mich plötzlich alarmiert an. Wenn ich so aussah, wie ich mich fühlte, dann mußte ich kreidebleich im Gesicht sein. »Was ist los?« fragte er. Seine Stimme klang scharf, aber jetzt ohne Zorn.
Ich zögerte einen Moment, sah mich unsicher nach der geschlossenen Tür um und fragte mich zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit, ob ich mir alles vielleicht nicht nur eingebildet hatte. Und ich kam zum zweiten Mal zu einem Ergebnis, das mir nicht gefiel.
Howard fragte nicht noch einmal, was passiert war, sondern ging wortlos an mir vorüber und öffnete die Tür. Ich fuhr erschrocken zusammen, auf den Anblick einer riesigen Albinoratte gefaßt, die auf der obersten Treppenstufe saß.
Aber da war nichts. Nur die Nacht, die Dunkelheit und der Nebel, der merklich dichter geworden war.
Howard blickte eine Weile stirnrunzelnd hinaus, drehte sich dann zu mir um und sah mich verwirrt - und schon wieder ein bißchen zornig - an. »Was ist los mit dir?« fragte er noch einmal. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Das ... habe ich auch«, gestand ich. »Wenigstens etwas ... etwas Ähnliches.«
»Ein ...« Howard zögerte, öffnete die Tür dann ganz und machte eine befehlende Geste. »Komm mit. Du kannst mir in der Kutsche alles erzählen. Es ist ja nicht nötig, daß wir das ganze Haus wecken, oder?«
Noch immer am ganzen Leibe zitternd, folgte ich ihm. Aber ich wagte es erst, aufzuatmen, als wir in der relativen Sicherheit der Kutsche waren und abfuhren.
Es war sehr lange nach Mitternacht, als wir nach Hause zurückkehrten. Das Haus war dunkel und still. Die Dienerschaft war schon lange zu Bett gegangen, und auch Rowlf hatte sich wohl zurückgezogen.
Howard bedeutete mir mit stummen Gesten, nach oben zu gehen und auf ihn zu warten, warf Hut und Mantel achtlos auf die Garderobe und verschwand lautlos in seinem Zimmer. Einen Moment wartete ich, dann wandte ich mich mit einem Achselzucken um, durchquerte die Halle und ging die Treppe ins erste Stockwerk hinauf.
Der knöcheltiefe Teppich dämpfte meine Schritte, und die Teppiche und Vorhänge, die an den Wänden drapiert waren, schienen zusätzlich jedes Geräusch aufzusaugen, aber wie immer, wenn ich allein und abends durch die schier endlosen Gänge der Villa ging, bemühte ich mich instinktiv, leise aufzutreten und kein Geräusch zu machen.
Ich bewohnte das Haus seit einem halben Jahr; Zeit genug, daß ich jeden Winkel und jede Ecke kennen sollte, und erst recht Zeit genug, mich hier heimisch zu fühlen.
Aber keines von beidem war der Fall.
Die riesige, dreistöckige Villa in einem der vornehmsten Viertel Londons war - wie alles, was ich besaß - ein Erbe meines Vaters gewesen, und wie alles, was ich von ihm geerbt hatte, war es zehnmal so groß und kostbar als alles, was ich zuvor kennengelernt hatte.
Und ich hatte mich vom ersten Moment an nicht wohl in seinen Mauern gefühlt.
Zu Anfang hatte ich geglaubt, es läge einfach an seiner Größe. Auf jemanden wie mich, der den größten Teil seines Lebens in den New Yorker Slums verbracht hatte, wirkte eine Umgebung wie diese naturgemäß im ersten Moment beängstigend. Ich war es nicht gewohnt, in einer Villa zu leben, in der man jede Mahlzeit in einem anderen Zimmer einnahm, in der es separate Räume zum An- und Auskleiden, ganze Zimmerfluchten, die für Gäste reserviert waren, gleich drei Bibliotheken und noch eine Anzahl von Räumen, die einfach leerstanden, gab, und ich war es erst recht nicht gewohnt, von morgens bis abends von einer ganzen Heerschar von Dienern und Hausmädchen umsorgt und bemuttert zu werden.
Aber Reichtum ist eine Sache, an die man sich gewöhnt; sehr schnell sogar gewöhnt.
An dieses Haus hatte ich mich nicht gewöhnt; im Gegenteil. Irgend etwas Unsichtbares, körperlos Böses schien seine Mauern zu erfüllen, etwas wie ein beständiger eisiger Hauch, der weniger mit den normalen menschlichen Sinnen als vielmehr mit der Seele spürbar war. Selbst an hellen Tagen schien immer ein Hauch von Düsternis in den Zimmern zu hängen, und oft - vor allem nachts und vor allem, wenn ich allein war - hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden; als hätten die Wände Augen. Es war nichts Feindseliges in diesem ... Etwas, das spürte ich deutlich. Aber es war erschreckend.
Erschreckend und vor allem fremd.
Ich vertrieb den Gedanken, ging ein wenig schneller und betrat die Bibliothek. Der Raum war dunkel, lediglich durch die Fenster, deren Vorhänge nur zur Hälfte zugezogen waren, fiel ein schwacher Streifen silbernen Mondlichtes herein, so daß ich die Umrisse der Möbel als schwarze, massige Schatten erkennen konnte. Vor der südlichen Wand leuchteten die drei Ziffernblätter der Standuhr wie geheimnisvolle, mattgrüne Augen. Aber zumindest diesen unheimlichen Anblick konnte ich mir erklären, denn diese Uhr war alles andere als eine Uhr. Sie sah nur so aus.
Ich schloß die Tür hinter mir, ging zum Schreibtisch und streckte die Hand nach der Tischlampe aus, während ich mit der anderen in meiner Westentasche nach Streichhölzern kramte.
Irgendwo hinter mir raschelte etwas.
Das Geräusch war nicht sehr laut, aber sonderbar scharf und auf schwer in Worte zu fassende Weise deutlich mit einem Empfinden von Gefahr gepaart.
Ich erstarrte mitten in der Bewegung, nahm die Hand behutsam aus der Tasche und drehte mich ganz langsam herum. Draußen vor dem Fenster rissen die Wolken auf, und die beiden dreieckigen Streifen silbernen Mondlichtes wurden heller, aber die Dunkelheit jenseits von ihnen schien sich eher noch zu verdichten. Die Schatten wurden schwarz und gleichzeitig härter, wie mit scharfen Tuschestrichen gezogen. Dann wiederholte sich das Rascheln. Und diesmal war es so deutlich, daß ich vollkommen sicher war, es mir nicht bloß eingebildet zu haben.
Mit angehaltenem Atem sah ich mich um. Das Rascheln war jetzt permanent zu hören, ein gedämpfer, scharrender Laut, der mich an das Kratzen kleiner scharfer Krallen erinnerte; gleichzeitig glaubte ich einen schwachen, moderigen Geruch zu verspüren, der aus der gleichen Richtung wie das Geräusch kam.
War das nicht eine Bewegung? Zuckte und wogte es nicht in den Schatten, als wäre die Dunkelheit selbst zum Leben erwacht, bewegte sich die Schwärze nicht wie ein großes, lebendes Ding hin und her?
Meine Hand tastete nach der Schreibtischschublade, zog sie lautlos auf und fand den kleinen, zweischüssigen Damenrevolver, den ich darin aufzubewahren pflegte. Vorsichtig, um kein überflüssiges Geräusch oder etwa eine verräterisch hastige Bewegung zu machen, zog ich ihn hervor, drehte mich wieder um und ging mit erzwungenen ruhigen Schritten zum Fenster.
Wieder hörte ich den raschelnden Laut, viel deutlicher diesmal - und näher. Es klang, als rieben sich kleine, weiche Körper aneinander. Der Friedhofsgeruch wurde stärker.
Mein Herz begann zu hämmern, und das Verlangen, herumzufahren und aus dem Zimmer zu stürzen, wurde beinahe übermächtig. Ich spürte, daß ich nicht allein, sondern daß da noch etwas anderes, Lauerndes, Unsichtbares war - und daß dieses Etwas feindselig und böse war.
Mit aller Selbstbeherrschung, die ich aufzubringen imstande war, trat ich zum Fenster, tat so, als blicke ich neugierig auf die Straße hinab -
und schlug mit einer einzigen Bewegung den Vorhang beiseite. Gleichzeitig wirbelte ich herum und riß die Waffe in die Höhe.
Der Anblick ließ mich erstarren.
Das Mondlicht strömte wie ein silberner Lampenstrahl durch das Fenster und tauchte den rückwärtigen Teil der Bibliothek in beinahe taghelle Helligkeit.
Der Boden dort drüben bewegte sich! Schwarze Schlangen aus Finsternis bebten und zuckten auf dem Teppich, bizarre Grimassen aus substanzgewordener Dunkelheit grinsten mich an, glitzernde Spinnenbeine tasteten zitternd in die Luft, und etwas Großes, Körperloses, Schwarzes waberte und wogte wie brodelnder Nebel über und in dem Boden.