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Shannon erstarrte, hob die Hand und schloß für einen Sekundenbruchteil die Augen.

Als er sie wieder öffnete, sah er die Linien. Pulsierende Linien, die sich wie Stricke eines überdimensionalen Spinnennetzes durch den Korridor spannten.

An ihrem Ende bewegte sich etwas. Eine Gestalt. Schmal, hell und flackernd wie ein Trugbild.

Und dann hörte er den Schrei. Einen gellenden, unglaublich entsetzten Schrei, der die Stille des Hauses auf fürchterliche Weise durchbrach.

Shannon rannte los, so schnell er konnte.

Ich mußte stundenlang vor dem Kamin gehockt und vor mich hingestarrt haben, denn als ich endlich aus meinem fast trance-ähnlichen Zustand erwachte, schmerzten meine Muskeln vor Verspannung, und meine Augen brannten.

Ich war nicht mehr allein.

Howard hatte die Bibliothek wieder betreten, hatte aber die Tür lautlos ins Schloß gezogen und war davor stehengeblieben. Ich fragte mich, wie lange er schon dastand und mich beobachtete.

»Bist du in Ordnung?« fragte er, als er meinen Blick spürte.

Ich nickte, stand auf und machte einen Schritt in seine Richtung, ging dann aber nicht weiter. »Es ... geht schon wieder«, sagte ich. »Ich fürchte, ich habe ziemlich viel Unsinn geredet, vorhin. Es tut mir leid.«

»Das braucht es nicht«, sagte Howard, und es klang ehrlich. »Es ist wohl auch meine Schuld. Ich hätte dich warnen müssen, in meinem Brief. Als ich ihn abgeschickt habe, war alles noch nicht halb so schlimm wie jetzt.«

»Du glaubst, daß sie uns angreifen werden?« fragte ich leise. »Hier?«

Howard zuckte mit den Schultern, löste sich von seinem Platz vor der Tür und kam näher. Ich sah, daß er einen Spazierstock in der Hand hielt, als wolle er ausgehen.

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, gestand er. »Unsere Gegner denken und planen nicht wie Menschen. Aber irgend etwas wird geschehen, das spüre ich. Und es wird nichts Gutes sein.« Er seufzte und hielt mir den Spazierstock entgegen.

»Eigentlich bin ich nur gekommen, um dir dies zu geben«, sagte er. »Ich wollte es dir schon zur Begrüßung überreichen, aber ...« Er sprach nicht weiter, sondern rettete sich in ein verlegenes Lächeln, während ich ihm den Stock aus der Hand nahm und ihn neugierig betrachtete.

Es war ein prachtvolles Stück. Der Schaft war ungewöhnlich lang und aus einem mir unbekannten, tiefschwarzen Holz gefertigt, und auch sein Knauf schien eine Spur zu groß geraten und blinkte wie ein geheimnisvoller Kristall, als ich ihn gegen das Feuer hielt. In seinem Inneren war ein dunkler, nicht genau erkennbarer Gegenstand eingeschlossen. Vielleicht auch nur ein Schatten.

»Dreh ihn nach links«, sagte Howard.

Ich gehorchte. Der funkelnde Kristallknauf drehte sich mit sanftem Widerstand, dann klickte etwas, und die Klinge eines rasiermesserscharfen, beidseitig geschliffenen Stockdegens glitt aus dem schwarzen Holz. Bewundernd zog ich ihn vollends heraus und drehte ihn in den Händen. Die Waffe war sehr leicht, aber ich spürte einfach, wie kräftig der zerbrechlich aussehende Stahl war. Die Klinge schien scharf genug, ein Haar zu spalten.

»Er hat deinem Vater gehört«, sagte Howard. »Ich habe ihn damals in Verwahrung genommen, als er nach New York ging, um dich zu suchen. Ich ... mußte ihm versprechen, gut auf ihn achtzugeben, bis er zurück ist. Aber ich glaube, es ist in seinem Sinne, wenn du ihn bekommst.«

In seiner Stimme war ein sonderbarer Klang, als er die letzten Worte sprach. Ich schob die Klinge in ihren hölzernen Schaft zurück, legte den Degen auf den Tisch und sah auf.

»Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe, Howard«, sagte ich noch einmal. »Ich wollte, ich könnte ihn um Verzeihung bitten.«

Howard lächelte. »Er weiß es, Robert«, sagte er. »Er wußte es schon, bevor du gekommen bist. Versuche uns bei unserem Kampf zu helfen, wenn du in seinem Sinne handeln willst.«

»Aber das kann ich nicht, Howard«, sagte ich gequält. Warum verstand er mich nur nicht?

»Begreif doch!« fuhr ich, beinahe flehend, fort. »Ich habe es versucht, Howard. Ich habe während des letzten Jahres mehr über Magie und Okkultismus gelernt als andere in ihrem ganzen Leben. Ich habe versucht, mich an diese Macht zu gewöhnen, die mein Erbe ist, aber ich kann es nicht. Ich will es nicht. Ich will nicht mein Leben lang in dem Bewußtsein existieren müssen, daß ich den Menschen, denen ich begegne, nur Unheil und Tod bringe!«

Irgendwo im Haus schlug eine Uhr, langsam und monoton, und ihr dumpfer hallender Klang schien meine Worte auf schauerliche Weise zu untermalen.

»Aber das stimmt doch nicht«, widersprach Howard sanft. »Es liegt in deiner Macht, was du aus deinem Erbe machst.«

Das Schlagen der Uhr hielt an, als wolle es seine Worte bestätigen.

»Und wenn ich nicht stark genug bin?« fragte ich. »Wenn ich versage und der Verlockung der Macht erliege, wie die anderen, die meinen Vater getötet haben?«

Howard wollte antworten, aber er kam nicht dazu. Irgendwo unter uns im Haus schlug die Uhr ein letztes, zwölftes Mal.

Etwas Unheimliches geschah.

Das Licht flackerte. Ein eisiger, unheimlicher Wind strich durch den Raum, ließ Funken aus dem Kamin stieben und löschte eine der drei Gaslampen, die die Bibliothek erhellten. Und gleichzeitig färbte sich der Schein der beiden anderen grün.

»Gott!« keuchte Howard. »Was ist das?«

Ein grauenhafter Gestank erfüllte mit einem Male das Zimmer. Etwas Dunkles, körperlos Wirbelndes schien aus dem Nichts über dem Tisch zu erscheinen, und ein gräßlicher Zischlaut verschluckte Howards Stimme.

Die fürchterliche Grünfärbung des Lichtes vertiefte sich, und plötzlich tanzte etwas Bleiches, formloses Weißes wie transparenter Nebel in der Mitte der Tischplatte. Howard schrie, prallte zurück. Seine Hand griff nach dem Stockdegen, verfehlte ihn und fegte ihn vom Tisch. Verzweifelt bückte er sich danach und versuchte ihn zu ergreifen.

Ich nahm von all dem kaum etwas wahr, sondern starrte weiter auf das tanzende Etwas, das wie Nebel über dem Tisch wallte und wogte. Plötzlich wurde es kalt, schneidend kalt, und mit einem Male streifte mich ein moderiger Luftzug, wie der Hauch aus einem Grab.

Dann ballte sich der Nebel zusammen, wuchs in Augenblicken zu einer zwei Meter hohen, flackernden Säule aus wirbelndem Weiß und reiner Bewegung -

und formte sich zu einer menschlichen Gestalt!

Eine eisige Hand schien meinen Rücken herab zu fahren, als ich das Gesicht der Nebelgestalt erkannte.

»Priscylla!« keuchte ich. Zitternd stand ich da, schrie wie von Sinnen und versuchte mit aller Kraft, nicht wahnsinnig zu werden, während ich auf die flackernde, halbdurchsichtige Mädchengestalt starrte.

Priscylla - meine Priscylla. Das Mädchen, das ich liebte, und das ein unbarmherziges Schicksal von meiner Seite gerissen hatte. Priscylla war verrückt geworden - jedenfalls nach Meinung der Ärzte -, und sie befand sich weit, weit entfernt, in einem Sanatorium in England. Und jetzt ... war sie hier!

Die Gestalt hob in einer sonderbar schwerelos wirkenden Bewegung die Arme. Ihr schwarzes, schulterlanges Haar wehte wie im Wind, und dann kam ein Ton tiefen, unendlich tiefen Leidens über ihre Lippen.

»Robert!« stöhnte sie. »Hilf ... mir ... hilf mir doch ... Sie ... kommen. Sie wollen meine ... Seele. Bitte helft! Helft mir.«

Dann geschah etwas Furchtbares.

Unter der Gestalt, irgendwie im Inneren der massiven Tischplatte, erschien ein Klumpen formlos glitzernder ... Dinge, die sich wanden und zuckten und bebten. Ein peitschender, schleimig-schwarzer Arm zuckte wie eine glitzernde Schlange empor, drang durch den Nebelkörper des Mädchens und riß ihn auseinander, so rasch und plötzlich, wie eine Sturmböe den Morgennebel zerreißt.