Howard nickte, drückte seine Zigarre aus und entzündete sich eine neue. Lady Audleys Stirn umwölkte sich. Wortwörtlich.
»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Robert«, fuhr sie fort. »Einen sehr großen Gefallen, wie ich gleich vorwegschicken muß. Wahrscheinlich werden Sie mich hinterher für völlig verrückt halten, aber ich flehe Sie an, einer alten Frau zu vergeben.«
»Nur zu«, sagte ich. »Nach dem, was heute nacht geschehen ist, erschüttert mich nichts mehr.«
»Auch nicht, wenn ich Sie bitte, mich nach St. Aimes zu begleiten?« fragte Lady Audley.
»St. Aimes?« echote ich.
»Der Friedhof, auf dem Cindy begraben liegt«, erklärte sie leise und mit großem Ernst. »Er liegt dort im Norden der Stadt, fast schon außerhalb. Ich möchte, daß Sie mit mir dorthin gehen, Robert.«
Ich muß sie angestarrt haben, als zweifele ich an ihrem Verstand, denn sie fügte hastig hinzu: »Ich weiß, was Sie jetzt denken, Robert. Aber ich flehe Sie an, helfen Sie mir.«
»Warum?« fragte Howard.
»Warum?« Lady Audley kreischte fast. »Das fragen Sie noch, nach dem, was Sie selbst heute nacht erlebt haben, Sie ... Sie ... Sie Amerikaner, Sie?«
Howards Mundwinkel zuckten. Aber er blieb - zumindest äußerlich - ernst. »Sie mißverstehen mich, Mylady«, sagte er und stieß eine Qualmwolke in ihre Richtung. »Im Gegensatz zu Robert bin ich mir der Tatasche bewußt, daß Ihre kleinen Seancen alles andere als eine harmlose Spielerei sind. Das war auch der Grund, aus dem ich dagegen war.«
»Dann sollten Sie verstehen, was ich in St. Aimes möchte«, erwiderte Lady Audley heftig. Plötzlich, und ohne daß ich mir erklären konnte, warum, war sie voller Feindseligkeit. »Cindy ist in Gefahr. Sie haben gehört, wie sie mich um Hilfe gerufen hat.«
»Cindy«, erklärte Howard sanft, »ist seit zwanzig Jahren tot, Mylady.«
Lady Audley schluckte hörbar. Ihr Gesicht wurde noch blasser. »Das weiß ich, Sir«, antwortete sie steif. »Aber ihre Seele ruft mich um Hilfe. Sie ist in Not. Vielleicht sind Sie als Amerikaner nicht daran gewöhnt, von Dingen wie einer unsterblichen Seele zu reden, aber wir sind hier nicht in den Staaten, sondern in einem zivilisierten Land, und wir wissen die alten Werte zu würdigen.«
»Howard wollte Ihnen sicher nicht zu nahe treten, Mylady«, sagte ich hastig. »Aber trotzdem - was glauben Sie, dort erreichen zu können?«
»Ich muß ihr helfen«, sagte Lady Audley heftig. »Aber ich brauche Sie dazu, Robert.«
»Ich? Aber was könnte ich -«
»Überlassen Sie das ruhig mir, mein Junge«, unterbrach sie mich. »Ich sagte es schon einmal, und ich sage es wieder: Sie sind ein Medium, sogar ein ganz außergewöhnlich begabtes Medium, Robert. Wir müssen nach St. Aimes. Cindy braucht meine Hilfe. Und ich glaube, daß Sie mich dabei unterstützen können. Nun?«
Ich schwieg einen Moment, sah erst sie, dann Howard und schließlich die vermeintliche Standuhr an, die in geradezu unverschämter Harmlosigkeit an der Wand hinter mir thronte. Für einen Moment glaubte ich, ein leises, schabendes Kratzen durch das fingerdicke Eichenholz zu hören. Ich konnte das Gefühl nicht begründen - aber das Wissen, daß das, was ich während der Nacht erlebt hatte, in direktem Zusammenhang mit der verunglückten Seance stand, wurde immer drängender.
»Bitte!« sagte Lady Audley leise. »Ich ... ich weiß, was ich von Ihnen verlange, Robert. Aber es ist wichtig. Cindy ist in Gefahr, das fühle ich.«
»Lady Audley -«, begann Howard, wurde aber sofort von ihr unterbrochen, und diesmal in einem Ton, der so kalt und hart wie Eis war.
»Ich rede mit Robert, Mister Phillips. Nicht mit Ihnen.« An mich gewandt und wieder in sanftem, fast bettelndem Ton fuhr sie fort: »Ich flehe Sie an, Robert. Meinetwegen halten Sie mich für verrückt, und ... und meinetwegen können Sie hinterher jedem erzählen, daß ich jetzt völlig den Verstand verloren habe, aber ich flehe Sie an, kommen Sie mit mir. Es ist nicht weit. In einer Stunde können wir dort sein.«
Ich versuchte vergeblich, ihrem Blick standzuhalten. In Lady Audleys Augen schimmerten Tränen, und plötzlich verspürte auch ich einen bitteren, harten Kloß im Hals. Es war fast absurd - ich war gerade achtzehn geworden, und Lady Audley mußte sich der Sechzig nähern. Sie war alt genug, meine Großmutter zu sein - aber jetzt bettelte sie mich mit tränenerfüllten Augen an, ihr zu helfen. Ich konnte gar nicht anders.
»In Ordnung«, sagte ich. »Wann möchten Sie fahren?«
»Jetzt ... gleich?« sagte Lady Audley schüchtern.
Statt einer direkten Antwort blickte ich auf die Uhr. Es war kurz nach fünf, und wir alle hatten einen sehr aufregenden Abend und eine Nacht ohne Schlaf hinter uns. Aber ein einziger Blick in Lady Audleys Augen ließ mich jeden Einwand vergessen, der mir auf der Zunge lag. Jede weitere Stunde, die sie in dieser schrecklichen Ungewißheit verbrachte, mußte ihr wahre Höllenqualen bereiten. Und auch ich spürte eine sonderbare Ungeduld, wenn auch freilich aus Gründen, die Lady Audley nicht einmal ahnen mochte. Alles, was geschehen war - die verunglückte Seance, die Frau mit dem schrecklichen Schädelhelm, die Albinoratte und die Invasion der grauen Ungeheuer - kamen mir vor wie Teile eines schrecklichen Puzzlespieles, das ich noch nicht zusammenzusetzen vermochte. Aber irgendwie hatte ich das sichere Gefühl, daß es wichtig sein konnte, es zu tun. Vielleicht lebenswichtig.
Ich nickte.
Lady Audley strahlte mich an, während Howard mit steinernem Gesicht an mir vorbei ins Leere starrte.
Während rings um uns im Haus die Dienerschaft allmählich erwachte und die Stille der Nacht den noch müden Geräuschen des neuen Tages wich, trafen Howard und ich die letzten Reisevorbereitungen. Auch wenn es nur eine kurze Fahrt war, so war es doch alles andere als eine fröhliche Landpartie, zu der wir uns aufmachten, und es gab gewisse Dinge, die ich mitzunehmen gedachte, wie zum Beispiel den harmlos aussehenden Spazierstock, den mir mein Vater vermacht hatte. In seinem Ebenholzschaft verbarg sich eine rasiermesserscharfe Klinge, die - Gott allein (und vielleicht noch mein Vater) wußte, warum - auf die meisten dämonischen Wesen, die mit ihr zusammenstießen, eine fatale Wirkung hatte.
Ich hatte damit gerechnet, daß Howard mich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit beim Kragen packen und mit Vorwürfen überhäufen würde, aber er hatte kein Wort mehr gesagt, sondern sich nach einer Weile mit einer gemurmelten Entschuldigung zurückgezogen und erklärt, daß er dabei helfen wollte, den Wagen reisefertig zu machen - was nichts als eine Ausrede war, denn der Zweispänner, den wir für längere Fahrten in der Stadt zu verwenden pflegten, stand stets abfahrbereit in der Remise hinter dem Haus. Bei einem Leben, wie Howard und ich es zu führen gezwungen waren, konnte es sich als lebenswichtig erweisen, auf einen schnellen Aufbruch vorbereitet zu sein. Trotzdem war ich mit keinem Wort darauf eingegangen, sondern hatte nur dankbar genickt. Obwohl ich mir durchaus darüber im klaren war, daß er quasi als Aufpasser mitzukommen gedachte, war ich sehr froh, nicht allein zum Friedhof St. Aimes fahren zu müssen.
Lady Audley hatte ihren Kutscher unter einem Vorwand weggeschickt, und jetzt war sie bei mir, sah mir zu, wie ich die letzten Kleinigkeiten zusammensuchte, und redete dabei ununterbrochen. Nachdem wir uns bereit erklärt hatten, sie zu begleiten, schien der Bann gebrochen; Lady Audley hatte endgültig alle Hemmungen über Bord geworfen und sprudelte alles hervor, was sie über Magie, Geistesbeschwörungen und Okkultes nur wußte; und das war eine Menge.
Das meiste davon war ein geradezu gotteslästerlicher Blödsinn.
»Wissen Sie, Robert«, sagte sie gerade, »es gibt tatsächlich so etwas wie einen Astralleib, auch wenn die meisten sogenannten normal denkenden Menschen nicht daran glauben.« Sie lächelte geheimnisvoll. »Jedenfalls behaupten sie, es nicht zu tun. Aber im Innersten glauben sie alle daran, bloß sind wir ja heutzutage so aufgeklärt und zivilisiert, daß wir nicht mehr zugeben können, an okkulte Dinge zu glauben.« Sie wälzte ihre gut zwei Zentner ein Stück näher und legte den Kopf in den Nacken, um mir ins Gesicht blicken zu können.