»Sie sind da selbst ein gutes Beispiel, mein lieber Junge«, fuhr sie mit einem Verschwörerblinzeln fort. »Sie haben sich doch insgeheim bisher über uns verrückte alte Schachteln lustig gemacht, nicht wahr?« Sie drohte spielerisch mit dem Finger und stach mir dabei fast in die Augen. »Und das, obwohl Sie ein sehr begabtes Medium sind. Sie wissen es nur noch nicht.«
»So?« machte ich und tat so, als suche ich in einer Schublade. Sie enthielt absolut nichts von Bedeutung, aber Lady Audley begann langsam, mir auf die Nerven zu gehen. Ich dachte insgeheim an die Bahnfahrt, die ich zusammen mit ihr durchzustehen hatte, und glaubte Howards schadenfrohes Grinsen schon jetzt zu sehen.
»Oh, ja«, sagte Lady Audley bestimmt. »Sie werden es noch besser verstehen, Junge. Später, wenn Sie älter und erfahrener sind.«
Ich hörte auf, in meiner Schublade herumzuwühlen, drehte mich betont langsam zu ihr um und sah sie an. »Lady Audley«, sagte ich ruhig. »Es gibt da etwas, was ich Ihnen gestehen muß. Sie werden es ohnehin erfahren, wenn sie mit uns nach St. Aimes fahren, und -«
»Sie brauchen nichts zu sagen, Robert«, unterbrach sie mich, plötzlich ebenso ernst wie ich. Ein neuer, sonderbarer Ausdruck war in ihren Augen erschienen. »Ich weiß von Ihrem Vater, Robert.«
»Sie ... wissen?«
Sie nickte, plötzlich ganz gönnerhafte Mutter. »Aber selbstverständlich Junge«, sagte sie. »Jeder hier in London weiß, wer Ihr Vater war - Roderick Andara, der Hexer, nicht?« Sie schüttelte den Kopf, als sie mein Erschrecken bemerkte, und fuhr, etwas schneller, aber noch immer im gleichen, sanften Ton, fort: »Ihr Vater war drüben in den Staaten ein berühmter Mann, und wir hier in London leben nicht hinter dem Mond. Aber sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Niemand trägt Ihnen nach, was Ihr Vater getan hat.«
»Sie wissen, von ... von seinem ... seinem Geheimnis?« wiederholte ich verstört. Ein Eimer eiskalten Wassers, der urplötzlich über meinem Kopf ausgegossen worden wäre, hätte mich nicht mehr erschrecken können als dieses plötzliche Eingeständnis.
»Aber natürlich«, sagte sie, trat noch weiter auf mich zu und hob die Hand, als wolle sie meine Wange streicheln. Ich wich ein Stück weit zurück.
»Schauen Sie, Robert, niemand hat das gut gefunden, was Ihr Vater tat. Aber Sie leben lange genug hier, um zu wissen, wie unsere Philosophie ist - leben und leben lassen, nicht? Andara war sicher ein begabter Mann, der es verstanden hat, die Menschen drüben in Amerika mit seinen Taschenspielertricks zu verwirren. Ich glaube, er ist sogar ein bißchen berühmt geworden. Aber wissen Sie - nein«, verbesserte sie sich selbst, »das können Sie ja gar nicht wissen -, ich denke, nach allem, was ich über ihn und auch Sie, Robert, erfahren habe, hat er wirklich ein gewisses magisches Talent besessen. Zumindest war er ein Medium, sonst wäre es ihm kaum gelungen, seine Zuschauer so perfekt zu täuschen. Und Sie haben dieses Talent geerbt, Robert.«
»Mein Vater?« murmelte ich, hin und her gerissen zwischen vorsichtiger Erleichterung und dem immer stärker werdenden Gefühl, lauthals loslachen zu müssen. »Sie glauben, daß er ein ...«
»Ein Medium war, ja«, führte Lady Audley den Satz zu Ende. »So wie Sie, mein Junge.«
Abrupt drehte ich mich wieder und fuhr fort, den Inhalt der Schublade von links nach rechts und wieder zurück zu sortieren. Lady Audley hätte das verräterische Zucken meiner Mundwinkel garantiert falsch gedeutet. Dabei war die Sache nicht halb so komisch, wie sie mir im Moment noch vorkam. Es würde mehr als nur Probleme geben, wenn wir den Friedhof von St. Aimes erreichten und dort auch nur einen Bruchteil dessen vorfanden, was ich befürchtete. Es war mir noch immer nicht gelungen, die losen Fäden miteinander zu verknüpfen - aber irgend etwas sagte mir, daß das Geschehen hier im Haus und das Schicksal von Lady Audley McPhearsons Nichte in direktem Zusammenhang miteinander standen.
Ich war heilfroh, als Howard schließlich an meine Tür klopfte und mich ungeduldig aufforderte, mich zu beeilen.
Der Morgen empfing uns mit Kälte und dünnen Schwaden des gefürchteten Londoner Nebels. Ein klammer Hauch lag über der Straße und ließ das Gras in den Vorgärten glitzern, als läge Rauhreif darin, und ich ging instinktiv schneller und mit gesenkten Schultern, als Rowlf endlich den Wagen aus der Remise geholt hatte und vor dem Tor vorgefahren war. Auch Howard und Lady Audley, die mit mir das Haus verlassen hatten, beeilten sich, aus der ungemütlichen Kälte heraus und in den Wagen zu kommen, wo wir wenigstens vor dem Wind geschützt waren.
Ein sonderbares Gefühl hatte von mir Besitz ergriffen: eine Mischung aus Unruhe, ja, beinahe Vorfreude, nach fast zwei Monaten dem doch recht tristen Leben eines Müßiggängers zu entfliehen; aber auch eine beinahe an Furcht grenzende Beunruhigung Howard setzte sich mir gegenüber auf die Bank. Ungeduldig zog ich den Wagenschlag hinter Lady Audley zu und wartete, bis Rowlf unser Gepäck verstaut und auf dem Bock Platz genommen hatte. Seine Peitsche knallte, und endlich setzte sich das Gefährt schwerfällig in Bewegung.
Langsam fuhren wir über den Ashton Place, wandten uns nach Norden und wurden schneller, als die Pferde sich warmliefen und ihre Muskeln geschmeidiger wurden.
Eine geraume Weile fuhren wir schweigend dahin. Lady Audley hatte den Weg nach St. Aimes erklärt - einem kleinen Nest weit im Norden, das irgendwann vor zehn oder mehr Jahren von der beständig weiterwuchernden Stadt einfach aufgesogen worden war, so daß es jetzt zu einem Teil Londons geworden war wie so viele kleine Ortschaften.
Wir mochten etwa eine halbe Stunde durch die morgendlich leeren Straßen der Themsestadt gefahren sein, als der Wagen mit einem so abrupten Ruck zum Stehen kam, daß ich um ein Haar von der Bank gerutscht wäre. Auch Howard kämpfte eine Sekunde lang um sein Gleichgewicht, dann fuhr er hoch, riß fluchend die Tür auf und schrie Rowlf an: »Was zum Teufel soll das?«
Rowlf antwortete irgend etwas, das ich nicht verstehen konnte, und ich sah, wie der Zorn auf Howards Gesicht einem fragenden Ausdruck Platz machte.
Ich machte eine beruhigende Geste in Lady Audleys Richtung, stemmte mich ebenfalls hoch und beugte mich neugierig aus dem Wagen. Howard stieg auf der anderen Seite aus und schlug den Mantelkragen hoch, als der Wind mit einem triumphierenden Heulen wieder über ihn herfiel. Ganz instinktiv tastete meine Hand nach dem gelben Kristallknauf des Stockdegens, den ich während der Fahrt lässig zwischen meine Knie geklemmt hatte.
»Was ist los?« fragte ich, an Rowlf gewandt.
Der rothaarige Riese zuckte mit den Achseln und deutete nach vorne.
Die Straße war nicht mehr leer. Ein Stück vor uns, nicht mehr als zwanzig Schritt entfernt, aber im schwachen Licht des Morgens nur als Schemen zu erkennen, stand eine Gestalt. Reglos und hoch aufgerichtet und mitten auf der Straße, nicht wie ein Mann, der vor Schrecken oder aus Neugier stehengeblieben wäre, sondern in einer Haltung, die mir deutlich sagte, daß er an dieser Stelle auf uns gewartet hatte; aus welchem Grund auch immer.
Dann bewegte sich die Gestalt, und aus dem grauen Schemen wurde ein Körper. Sekunden später blickte ich in das Gesicht eines vielleicht zwanzigjährigen, rothaarigen Burschen, der in seiner abgerissenen Kleidung (und mit einem Gesicht, das wohl seit einem Monat nicht mehr mit Wasser in Berührung gekommen war) noch immer wie ein Geschöpf der Nacht aussah.
Das ungute Gefühl in meinem Magen wurde stärker. Instinktiv sah ich mich um. Wir hatten das Zentrum der Stadt längst hinter uns gelassen und befanden uns in einer der weniger ansehnlichen Gegenden Londons. Die Straße war menschenleer.