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Alarmiert wandte ich mich wieder dem rothaarigen Burschen zu. Langsam kam er näher, sah erst Howard, dann mich und schließlich Rowlf in eindeutig abschätzender Weise an und wandte sich schließlich wieder an mich.

»Bitte?« sagte ich. Ich kam mir ein bißchen albern dabei vor, aber der Rothaarige schien genau auf diese Reaktion gewartet zu haben. Ein rasches, nervöses Lächeln huschte über seine Züge. Ich bemerkte, daß sein Atem nach billigem Weinbrand roch, und wich unwillkürlich ein kleines Stück von ihm weg.

»Sie sind Craven, oder?« fragte er. »Ronald Craven.«

»Robert«, verbesserte ich ihn. »Aber sonst stimmt es.« Ich runzelte die Stirn. »Kennen wir uns?«

Der Bursche schüttelte hastig den Kopf und kam wieder einen Schritt näher. Ich widerstand nur mit Mühe dem Impuls, abermals zurückzuweichen, um seiner Alkoholfahne aus dem Weg zu gehen. »Nö«, sagte er. »Aber ich hab’ ‘nen Brief für Sie.« Er grub in der Tasche seiner schwarzen, viel zu weiten Arbeitsjacke, kramte einen zerknitterten Umschlag hervor und hielt ihn mir hin, zog die Hand aber rasch wieder zurück, als ich danach greifen wollte.

»Die Frau, die ihn mir gegeb’n hat, hat gesagt, ich kriege ein Pfund von Ihnen«, behauptete er.

»Ein Pfund?« Ich runzelte abermals die Stirn und maß ihn mit einem langen, mißtrauischen Blick. Ein Pfund war eine hübsche Stange Geld für einen - unter Umständen - schlechten Scherz. Aber wer sollte sich wohl einen Scherz mit mir erlauben, in einer Stadt, in der ich kaum eine Seele kannte?

»Gib es ihm«, murmelte Howard. Er hatte den Wagen umrundet und war neben mich getreten, ohne daß ich es gehört hatte. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich Rowlf auf dem Kutschbock spannte, als fürchte er, daß der Rothaarige uns angreifen würde.

Ich überlegte noch einen Moment, nickte dann und zog eine Pfundnote aus der Tasche. So viel, wie ein Arbeiter in den Docks in drei Tagen verdiente.

Der Bursche reichte mir den Brief, riß mir die Banknote aus der Hand und verstaute sie mit einem triumphierenden Grinsen in der gleichen Tasche, aus der er den Brief gezogen hatte.

Neugierig drehte ich den Brief in der Hand. Schon ein erster, flüchtiger Blick sagte mir, daß es kein Scherz war, auch kein übler Trick dieses zwielichtigen Burschen, der sich auf diese Weise ein Pfund ergaunern wollte. Er trug keinen Absender, aber auf seiner Vorderseite war mit kleiner, krakeliger Handschrift Für Robert Craven geschrieben.

»Wer hat Ihnen das gegeben?« fragte ich. »Und wann?«

»Grad, vor’n paar Minuten«, antwortete der Bursche. »War so’n komisches Weibsbild mit dunkler Haut, fast wie ne Araberin, wissen Sie? Hat mich dort drüben angequatscht, auf der anderen Straßenseite. Sah aus, als hätte sie auf euch komische Vögel gewartet.«

Instinktiv blickte ich zu dem Trottoir auf der anderen Seite der Straße hinüber. Aber natürlich war die Frau nicht mehr da.

Und ich konnte mir noch auch die Mühe sparen, hinzugehen und nach ihr zu suchen. Außerdem hatte ich das bestimmte Gefühl, zu wissen, wer sie war.

»Ich ... danke Ihnen«, sagte ich. Aber der Bursche machte keine Anstalten, sich zu rühren.

»Was ist denn noch?« fragte ich. »Sie haben Ihr Geld doch bekommen.«

»Sie hat gesagt, ich soll warten, bis Sie ihn aufgemacht haben«, grinste der Bursche. »Weiß nicht, warum. Aber sie hat gesagt, Sie wüßten es sicher.«

Ich tauschte einen verwirrten Blick mit Howard und riß den Brief auf. Er enthielt ein kleines, sorgsam in der Mitte gefaltetes Blatt.

Es enthielt nur eine einzige Zeile: Das nächste Mal passiert es dir!

Zwei, drei Sekunden lang starrte ich den Bogen Papier sprachlos an, dann fuhr ich mit einem wütenden Ruck herum und fauchte den Rothaarigen an: »Was soll der Unsinn? Wenn das ein Witz sein soll, ist es kein guter, mein Freund.«

Der Bursche grinste in unverhohlener Schadenfreude. Aber er machte noch immer keine Anstalten, zu gehen, sondern blickte mich weiter an. »Sie hat noch was gesagt«, sagte er. »Sie sollen warten, bis ich weggegangen bin. Sie hat gesagt, Sie wüßten schon, warum. Ehrlich, Mister.«

Das wußte ich ganz und gar nicht, so wenig, wie ich mir erklären konnte, warum die geheimnisvolle Briefschreiberin ihre Nachricht nicht der Post anvertraut oder gleich unter meiner Tür durchgeschoben hatte. Trotzdem trat ich mit einem Achselzucken hinter dem Burschen her um den Wagen herum und blieb wieder stehen. Der Wind trug das Quieken einer Ratte heran, aber ich versuchte es zu ignorieren, denn der Gedanke weckte unangenehme Erinnerungen in mir. Aber in einer Gegend wie dieser gehörten Ratten wohl zum Stadtbild wie die überzüchteten weißen Zwergpudel zu dem des Viertels, das ich bewohnte.

Der Wind schlug mir doppelt kalt ins Gesicht. Ich schauderte, schlug den Mantelkragen hoch und vergrub die Hände tief in den Taschen, während der Bursche vor mir die Straße überquerte und sich dabei ein paarmal zu mir umsah, wie um sich zu vergewissern, daß ich auch wirklich stehenblieb. Auf seinem Gesicht lag dabei ein Ausdruck, der mir gar nicht gefiel. Es war ein Lächeln, aber eines, das eher an ein gehässiges Grinsen als alles andere erinnerte. Ein dumpfes Gefühl der Beunruhigung machte sich in mir breit. Nach allem, was ich bisher erlebt hatte, war es vielleicht nicht gut, gleich alles zu tun, was irgendein dahergelaufener Fremder von mir verlangte.

Der Rothaarige hatte mittlerweile die gegenüberliegende Straßenseite erreicht und blieb stehen. Auf seinem Gesicht lag ein häßliches Grinsen, als er zwei Finger in den Mund steckte und einen schrillen Pfiff ausstieß.

Die Reaktion erfolgte prompt. Nur ein paar Schritte hinter ihm erschien ein Schäferhund, ein großer, sehr kräftiger Hund, der sicher seine hundert Pfund wog. Ganz ruhig trat er aus einer Toreinfahrt heraus und blickte den Rothaarigen an, der offensichtlich sein Herr war.

Wieder hörte ich das Quieken, und diesmal war der Laut anders als bisher - schriller, kreischender, irgendwie ... wütender; so mißtönend, daß ich unwillkürlich aufsah und nach dem Tier Ausschau hielt, das diese beunruhigenden Laute verursachte.

Es war eine Ratte. Ich entdeckte sie, kaum einen Steinwurf entfernt, auf der anderen Seite der Straße. Im allerersten Moment dachte ich, es wäre die riesige Albinoratte, der ich in der Nacht begegnet war, aber dann löste sie sich vollends aus dem schwarzen Schatten des Hauses, und ich erkannte, daß es sich um ein anderes Tier handelt. Wenn auch um eines, das kaum weniger furchteinflößend aussah als das weiße Ungeheuer. Es war ein gewaltiges, struppiges Tier, graubraun und so groß wie eine Katze, und es benahm sich irgendwie ... falsch. Es rannte nicht davon, sondern hockte nur reglos da, schnupperte in die Luft und schien mich aus seinen kleinen boshaften Augen direkt anzustarren. Sein Fell war gesträubt, und vor seinem Maul stand weißer, flockiger Schaum.

Ich war nicht der einzige, der die Ratte entdeckte. Auch Howard zuckte wie unter einem Hieb zusammen, und aus dem Wagen erklang ein unterdrückter Schrei, als Lady Audley das ekelhafte Tier sah.

Die Ratte zischte wie irr, sprang auf die Straße und kam mit einem schauerlichen Hecheln näher. Sein Fell war gesträubt, und ich sah jetzt, daß in dem weißen Schaum, der von seinen Lefzen troff, Blut war. Der Hund begann drohend zu knurren und legte die Ohren an.

Das Quieken der Ratte steigerte sich zu einem irrsinnigen Zischen und Heulen. Mit einem letzten, gewaltigen Satz überwand sie die Straße, federte auf den Hund zu und riß ihn mit ungeheurer Wucht von den Füßen. Sein Heulen ging fast im wütenden Zischeln der Ratte unter.

Endlich erwachte ich aus meiner Erstarrung. Mit einem Schrei stürzte ich vor, griff unter den Mantel und zerrte den kleinen, zweischüssigen Damenrevolver hervor, den ich in der letzten Zeit stets bei mir trug.