Alles ging unglaublich schnell. Die Riesenratte rang den Schäferhund einfach nieder, ungeachtet der Tatsache, daß er mindestens fünfmal so groß war wie sie. Ihre gewaltigen, mit fürchterlichen Fängen besetzten Kiefer klappten auf und stießen auf die Kehle ihres Opfers. Der Hund kreischte vor Schmerz und Angst, bäumte sich auf und schnappte wild um sich, ohne das zuckende Bündel erreichen zu können, das sich in seine Kehle verbissen hatte.
Ich schoß.
Die Entladung der kleinen Damenpistole hörte sich seltsam dünn und schwächlich an, aber die Ratte fuhr, wie von einem unsichtbaren Fausthieb getroffen, zusammen, ließ von ihrem Opfer ab und strauchelte. Ihr Kreischen war plötzlich das des Schmerzes, nicht mehr der Wut. Wie irr begann sie sich um ihre eigene Achse zu drehen, heulte und kreischte und versuchte nach der Wunde in ihrer Schulter zu schnappen, der Stelle, an der der furchtbare Schmerz saß, den sie sich mit ihrer dumpfen Intelligenz nicht erklären konnte.
Ich blieb stehen, zielte noch einmal und sorgfältiger, und zog den zweiten Abzug der kleinen Waffe durch.
Diesmal traf ich besser. Das Tier bäumte sich noch einmal auf, brach in den Vorderläufen zusammen und starb.
Irgendwo hinter mir erklang ein zweites, wütendes Zischen.
Erschrocken fuhr ich herum, sah einen Schatten auf mich zufliegen und riß instinktiv die Arme in die Höhe. Ich spürte einen Schlag, verlor auf dem regenfeuchten Pflaster den Halt und stürzte, instinktiv die Hände vor Gesicht und Kehle reißend.
Aber der Angriff galt nicht mir.
Diesmal war es gleich ein Dutzend Ratten. Sie waren irgendwo aus dem Gebäude hinter mir gekommen, vielleicht auch aus der Kanalisation oder einem Kellerloch gekrochen, und jagten jetzt zischend und fiepend vor Wut und Blutdurst auf den gestürzten Hund zu.
Das Tier erkannte die Gefahr ganz instinktiv, und trotz der Schmerzen, die ihm die tiefen Bißwunden bereiten mußten, reagierte es noch. Es bäumte sich auf, begann zu knurren und biß nach den Ratten. Die erste tötete es mit einem einzigen Zuschnappen seiner gewaltigen Kiefer. Dann waren die anderen über ihm, und der unglückliche Hund verschwand unter einem Wust quirlender braungrauer Leiber.
Hinter mir begann Lady Audley zu schreien, während Rowlf mit einem Satz vom Wagen sprang, wie ich auf dem nassen Kopfsteinpflaster ausglitt und benommen liegenblieb. Zwei, drei, dann ein halbes Dutzend Ratten ließen von dem Schäferhund ab, der sich nur noch schwach wehrte, und stürzten sich auf Rowlf.
Es war dieser Anblick, der mich aus meiner Erstarrung riß. Verzweifelt raste ich die Treppe hinunter, sprang hinzu, trat eine Ratte aus dem Weg und zog die Klinge meines Stockdegens blank, ungeachtet der Gefahr, in der ich mich selbst befinden mochte. Rowlf schrie und brüllte vor Schmerz und Entsetzen, während ich die Ratten, die sich in seine Kleider und seine Haut verbissen hatten, von ihm herunterzuschlagen versuchte. Ich spießte ein halbes Dutzend der kleinen Ungeheuer auf, aber es kamen immer mehr. Binnen Sekunden handelte ich mir ein halbes Dutzend schmerzhafter Bisse und Kratzer an Händen und Armen ein, und einer der ekelhaften Nager wollte gar nach meiner Kehle schnappen. Ich brach ihm das Genick, packte eine zweite Ratte im Nacken und zerrte sie von Rowlfs Brust und schleuderte mich zurück. Ich fiel, erschlug noch im Stürzen eine Ratte und sprang sofort wieder auf die Füße, um ihm zu Hilfe zu eilen. Mit einem Ruck fuhr ich hoch, fuhr herum - und erstarrte vor Schreck.
Die Straße schien zu gräßlichem Leben erwacht zu sein. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was das graubraune Wogen und Zucken zu bedeuten hatte, das sich wie eine schlammige Flutwelle auf mich zubewegte.
Es waren Ratten.
Hunderte von Ratten, die mit einem wütenden Zischen und Quieken heranfluteten. Ihre stahlharten Klauen verursachten ein fürchterliches, kratzendes Geräusch auf dem Boden. Die Fänge der Tiere waren drohend gebleckt, und in den kleinen dunklen Augen loderte Mordlust.
Die Tiere waren überall. Ratten aller nur denkbaren Größe und Rasse, alte und junge Tiere, Ratten von wenig mehr als Mausgröße bis hin zu terriergroßen Bestien, deren Zähne kräftig genug schienen, einem Mann die Hand abzubeißen. Und der Ring der Tiere schloß sich unbarmherzig!
Die Ratten rasten heran! Wie eine braune Flutwelle ergossen sie sich aus Kellerfenstern und Gullys auf die Straße, eine quirlende, quietschende Armee braungrauer struppiger Körper, die rasend schnell näher kam. Sekunden, ehe sie den Wagen erreichten, teilte sich der rasende Strom in zwei ungleichmäßige Hälften, wie ein Meer, das sich vor einem Felsen teilt, um ihn zu umspülen. Trotzdem stiegen die beiden Pferde kreischend auf die Hinterläufe. Eines der Tiere stürzte, verhedderte sich im Zaumzeug und blieb liegen, kreischend vor Schmerz und Panik. Das andere zerrte verzweifelt an den ledernen Riemen, die es hielten, versuchte loszurennen - und riß das ganze Fuhrwerk um. Lady Audleys angsterfülltes Rufen ging im Schmerzgebrüll der beiden Pferde und dem Krachen und Splittern der umstürzenden Kutsche unter. Rowlf versuchte das Fuhrwerk zu erreichen, prallte aber mit einem schmerzhaften Keuchen zurück, als sich gleich Dutzende von rasiermesserscharfen Rattenzähnen durch seine Hosenbeine gruben.
Aber all das registrierte ich nur am Rande, denn sowohl Howard als auch ich sahen uns plötzlich von einer ganzen Armee gierig zischelnder Ratten eingekreist! Zwei, drei Sekunden lang begnügten sich die Tiere damit, den tödlichen Kreis um uns herum zu schließen - und dann griffen sie an.
Es schien, als hätten die Tiere einen lautlosen Befehl erhalten. Sie griffen nicht an wie rasende Kreaturen, sondern stürzten sich in fast militärischer Präzision auf Howard und mich. Plötzlich schien die Welt nur noch aus braunem und grauem Fell und reißenden Krallen und scharfen schnappenden Zähnen zu bestehen. Ich riß den Degen hoch und schlug verzweifelt um mich, aber obwohl ich fast mit jedem Hieb traf, war es aussichtslos. Für jede Ratte, die ich erschlug oder verwundete, schienen zehn neue aufzutauchen.
Neben mir schrie Howard wie von Sinnen. Ich sah, daß Dutzende von Ratten in dichten Trauben auf seinem Rücken und an seinen Hosenbeinen hingen. Aus irgendeinem Grunde schien sich der Angriff der wütenden Nager auf Howard zu konzentrieren.
Noch einmal bäumte ich mich auf, schlug eine Ratte von meiner Schulter herunter und schüttelte zwei, drei andere, die sich in mein Haar und meine Jacke verkrallt hatten, ab und taumelte auf Howard zu. Mein Herz raste wie wild, als ich sah, wie er unter dem Ansturm der Ratten zu Boden ging. Ich stürzte neben ihm auf die Knie nieder und schleuderte die Ratten mit beiden Händen zur Seite. Zwei, drei Tiere bissen nach mir, aber wie vorhin, als ich versucht hatte, dem Rothaarigen zu Hilfe zu kommen, griffen sie mich auch diesmal nicht wirklich an, sondern spritzten in alle Richtungen auseinander und flohen, und ich sah aus den Augenwinkeln, daß auch die Tiere, die sich auf Rowlf gestürzt hatten, von ihrem Opfer abließen und verschwanden.
Und plötzlich fiel mir die Stille auf.
Der Angriff der Rattenarmee hatte nicht nur aufgehört - sie waren fort! Die ganze Masse der widerlichen Tiere war verschwunden, in den wenigen Augenblicken, in denen ich mich zu Howard durchgekämpft hatte. Hier und da lag ein vereinzeltes Tier tot oder verletzt auf der Straße, und hinter mir erklang ein fast mitleiderregendes Quieken. Aber die gewaltige Rattenarmee war fort, so schnell, als wäre sie nicht mehr als ein Spuk gewesen ...
»Der Wagen«, stöhnte Howard. »Was ist mit ... mit Lady McPhearson?«
Ich sah auf, fuhr wie unter einem Peitschenhieb zusammen und ging auf den zertrümmerten Wagen zu.
Es war ein furchtbarer Anblick. Die beiden Pferde waren tot, in wenigen Sekunden von den Ratten regelrecht skelettiert, und der Wagen selbst war ein einziger Wust aus zerborstenem Holz und Glassplittern. Zitternd vor Schwäche - und immer stärker werdender Angst - stieg ich über die zertrümmerten Reste eines Rades, beugte mich vor und blickte mit klopfendem Herzen in den Wagen.