Eine eisige, unsichtbare Hand schien über meinen Rücken zu streichen und sich kribbelnd um meinen Nacken zu legen. Der Wagen bot einen furchtbaren Anblick. Die Wände waren zertrümmert, eine der Türen war geborsten und die Splitter wie tödliche hölzerne Speerspitzen ins Wageninnere gestoßen; überall war Blut, und zwei oder drei tote Ratten lagen mit verrenkten Glieder da.
Aber das war nicht das Schlimmste. Ich war auf Schreckliches gefaßt gewesen, selbst darauf, Lady McPhearson schwer verwundet oder gar tot vorzufinden.
Aber sie war weder das eine noch das andere.
Lady Audley McPhearson war verschwunden.
Eine Hand berührte mich an der Schulter, und als ich aufsah, blickte ich in Rowlfs zerschundenes Gesicht. »Alles in Ordnung, Kleener?« nuschelte er.
Ich nickte - obwohl ich bisher nicht einmal Zeit gefunden hatte, mir darüber klarzuwerden, ob ich verletzt war oder nicht - und drehte mich schwerfällig vom Wrack des Wagens weg. Howard kam soeben mühsam angehumpelt, aber wie Rowlf und ich schien auch er mit ein paar Kratzern und Schrammen davongekommen zu sein. Natürlich, dachte ich bedrückt. Der Angriff auf uns war nichts als ein Ablenkungsmanöver gewesen. Es war Lady Audley, der die Falle gegolten hatte.
»Was ist passiert?« fragte Howard schweratmend. »Wo ist Lady McPhearson?«
Ich setzte zu einer Antwort ab, aber ich kam nicht mehr dazu, denn in diesem Moment fiel mein Blick auf die Gestalt auf der anderen Straßenseite. Sie stand schon seit einigen Sekunden dort, aber ich hatte sie ganz instinktiv für den Rothaarigen gehalten.
Aber das war sie nicht.
Es war eine Frau. Sie war lautlos aus einer Seitenstraße getreten, rasch und schweigend wie die Schatten, in denen sie gelauert und die Straße beobachtet haben mußte. Jetzt stand sie reglos da, wie eine gräßliche Statue, nur zu dem einzigen Zweck erschaffen, jedes menschliche Leben, nach dessen Vorbild sie gefertigt worden war, zu verhöhnen. Von den Füßen aufwärts bis zu den Schultern war sie ein ganz normaler Mensch; eine Frau von jugendlich schlankem Wuchs und in eine hellgrüne, halb durchsichtige Toga gehüllt, unter der sich die Umrisse ihres mädchenhaften Körpers wie ein schwarzer Schattenriß abzeichneten. Nur ihr Kopf war nicht der eines normalen Menschen.
Es war überhaupt nicht der Kopf eines Menschen.
Auf den schmalen, leicht vorgebeugten Schultern ruhte der spitze, skelettierte Schädel einer riesigen Ratte!
Sekundenlang stand ich wie erstarrt da; gleichermaßen gelähmt durch den entsetzlichen Anblick wie auch auf eine morbide Art fasziniert.
Plötzlich hob die Rattenköpfige die Hand und trat gleichzeitig weiter auf den zerborstenen Wagen und mich zu; und im gleichen Augenblick fiel die Lähmung wie ein hastig abgestreifter Mantel von mir ab; ich prallte zurück, stolperte und fiel der Länge nach hin. Eine Ratte schoß quiekend davon, als ich sie unter mir zu begraben drohte - nicht ohne mich im Vorbeigehen noch einmal kräftig in die Hand zu beißen - und die Frau mit dem Rattenkopf stieß einen leisen, fast wie ein Kichern klingenden Laut aus.
Abermals kam sie näher. Der Blick ihrer dunklen Augen schien sich an meinem Gesicht festzusaugen; gleichzeitig vollführten ihre Hände - die noch immer in diesen schrecklichen Handschuhen steckten wie während der vergangenen Nacht - kleine, kompliziert anmutende Gesten. Ich hörte einen Laut, den ich erst nach Sekunden als den Schrei einer menschlichen Stimme identifizierte, gefolgt von einem fürchterlichen Scharren und Kratzen, dann einem ekelhaften Rascheln, als rieben sich zahllose kleine, weiche Körper aneinander. Hastig wandte ich den Kopf, um nach der Ursache dieses bedrohlichen Geräusches zu sehen.
Besser gesagt - ich wollte es.
Ich führte die Bewegung nicht einmal halb zu Ende.
Es war nicht so, daß mir meine Muskeln nicht mehr gehorchten oder sie irgend etwas lähmte; vielmehr hatte ich für einen kurzen, schrecklichen Moment das Gefühl, als ob hinter meiner Stirn ein zweiter, fremder Wille sei, kaum weniger stark als mein eigener und von düsterer, animalischer Art.
Zitternd und gegen meinen Willen drehte ich den Kopf wieder zurück, stemmte mich halb in die Höhe und starrte die Frau mit dem Rattenhelm an. Etwas schien mit ihren Augen zu passieren; Augen, die größer und größer zu werden schienen, grundlosen schwarzen Schächten gleich, in denen mein Wille und meine Lebenskraft versickerten wie Wasser in der Wüste.
Und -
Es war eine Welt unter einer schwarzen Sonne. Es gab kein Licht, sondern nur eine ungesunde, graue Helligkeit, die aus dem Nirgendwo kam und sich matt auf den schwarzen Wellen des erstarrten teerigen Sumpfes spiegelte, der die Oberfläche dieser absurden Welt bedeckte. Hier und da durchbrachen Dinge den gewellten Boden, schwarze Strünke wie verbranntes Buschwerk, die aber lebten und sich wie in einem unfühlbaren Wind wiegten und wanden, peitschende Bündel grauschwarzer narbiger Tentakel.
Da war das Mädchen. Sie war schlank und schmalschultrig und hatte dunkles Haar und große, traurige Augen. Ihre Haut wirkte in dieser bizarren Umgebung noch blasser, und ihr Mund war zu einem Schrei geöffnet, ohne daß auch nur der mindeste Laut über ihre Lippen kam.
Sie rannte. Sie lief wie von Sinnen, ohne von der Stelle zu kommen, denn wie um sie in ihrer Qual noch zu verspotten, bewegte sich der Boden im gleichen Maße zurück, in dem sie lief. Träge stiegen gewaltige Blasen aus dem nur scheinbar festen Schwarz der Erde und zerplatzten, und immer wieder stießen Büschel vibrierender haariger Tentakel nach dem Mädchen, griffen nach ihr und zuckten im letzten Moment zurück, als scheuten sie aus irgendeinem Grund davor zurück, sie zu berühren. Das Licht flackerte, und am Himmel erschien ein absurdes aufgedunsenes Etwas, das unmöglich eine Sonne sein konnte und ein bleiches, krankmachendes Schlangenlicht verströmte.
Das Mädchen blieb stehen. Wieder zuckte der Boden wie ein lebendes Wesen und erbrach Tentakel und absurde Dinge aus lebendem blasigem Schleim, aber diesmal zeigte sie keine Furcht, sondern blickte sich mit einer sonderbaren, fast unschuldigen Neugier um. Dicht hinter ihr brach der Boden auf, und aus dem Riß, der pulsierte und schwarze Flüssigkeit absonderte wie eine schreckliche Wunde, stieg ein unförmiger Klumpen schwarzschillernder Materie, wand und bog und verzerrte sich und wuchs zu einem Etwas, das auf furchtbare Weise an eine Ziege erinnerte, und gleichzeitig ganz anders war; nicht von dieser Welt, vielleicht nicht einmal aus diesem Kosmos.
Das Mädchen betrachtete das Tier einen Moment lang interessiert und drehte sich weiter herum. Schließlich blieb ihr Blick auf mir haften, und obwohl ich mir der Tatsache, daß dies alles nicht real, sondern nur eine Art Vision sein konnte, vollkommen bewußt war, wußte ich doch mit der gleichen Sicherheit, daß sie mich erkannte.
Dann begann sie zu reden.
»Dies ist die letzte Warnung, Sohn des Hexers«, sagte sie. »Was geschehen muß, wird geschehen, und es liegt nicht in deiner Macht, irgend etwas am vorbestimmten Lauf der Dinge zu ändern. Wisse, daß die Zeit herannaht, da ER, DESSEN NAMEN MAN NICHT AUSSPRECHEN SOLL, erwacht, und wisse, daß wir, die ihm dienen, DAS TIER erwecken werden. Und wisse, daß es nicht die Sache der Menschen ist, irgend etwas daran zu ändern.«
Ich wollte eine Frage stellen, aber ich konnte es nicht, denn ich war - obgleich die Hauptperson dieser alptraumhaften Szene - nicht mehr als ein unbeteiligter Zuschauer, der hören und sehen konnte. Trotzdem schien das Mädchen zu spüren, was in mir vorging, denn plötzlich lächelte es; wenn auch nur knapp und eher mitleidig.
»Aber wisse auch«, fuhr sie fort, »daß es nicht in unserem Interesse liegt, dir oder irgendeinem anderen Menschen Schaden zuzufügen. Deshalb geh. Geh und sei Mensch und kümmere dich um die Dinge der Menschen, und dir wird kein Leid geschehen.«