Damit wandte sie sich um und ging. Der Boden zuckte und warf Wellen, wo ihre Füße den erstarrten schwarzen Sumpf berührten, und immer wieder stiegen große ölige Blasen empor, zerplatzten oder gebaren gräßliche schwarze Dinge, deren bloßer Anblick den Augen schmerzte. Dann begannen die Dünenlandschaft und die furchtbare krankmachende Sonne am Himmel zu verblassen, und
- ich fand mich unversehens in der Wirklichkeit zurück, halb über dem zertrümmerten Wagen zusammengesunken und in den Klauen des schrecklichen Rattenmädchens.
Mit einem Schrei bäumte ich mich auf, sprengte ihren Griff und schlug ihr mit aller Kraft die Faust ins Gesicht. Ein scharfer Schmerz schoß durch meine Hand, als meine Knöchel gegen den stahlharten Knochen des bizarren Helmes prallten, aber das Ungeheuer stieß ein pfeifendes Keuchen aus, torkelte zurück und brach in die Knie. Langsam kippte es zur Seite, verdrehte die Augen und schlug rücklings auf dem harten Kopfsteinpflaster auf, wobei sein schwarzer Helm herabfiel und über die Straße kollerte.
Verstört starrte ich die sonderbare Kopfbedeckung mit den drei kleinen, blitzenden Messingknöpfen an. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, daß Rattenmädchen im allgemeinen keine schwarzen Hüte trugen, sondern diese Art von Kopfschmuck eher von den Londoner Bobbys bevorzugt wurde.
Denn niemanden anders hatte ich niedergeschlagen.
Als ich hergebracht worden war, war gerade die Sonne aufgegangen, und das altehrwürdige, aus graubraunem Sandstein erbaute Gebäude schien noch nicht ganz erwacht zu sein. Jetzt stand die Sonne hinter den blind gewordenen Scheiben des kleinen Büros fast im Zenit und verriet mir, daß es Mittag war. Ich fühlte mich erschöpft und ein wenig müde. Ich hatte geredet, zugehört, wieder geredet und zugehört, Fragen beantwortet und selbst welche gestellt, und irgendwann, vielleicht vor einer Stunde, hatte das Gespräch angefangen, sich im Kreise zu drehen.
Mein Gesprächspartner - ein Mann von annähernd fünfzig Jahren und ehrfurchtgebietender Statur - wirkte genauso müde und erschöpft wie ich, obgleich er sich Mühe gab, eine seiner Stellung entsprechende würdevolle Haltung anzunehmen. Sein Name war Wilbur Cohen - Captain Wilbur Cohen, wenn ich genau sein wollte - und er war so etwas wie der stellvertretende Leiter der Institution, in deren Mauern ich mich befand: Scotland Yard.
Das heißt, ganz sicher war ich mir da nicht. Cohen hatte sich mir vorgestellt, und das kleine Messingschildchen außen an der Tür seines Büros hatte mir seinen Rang verraten, aber ich kannte mich nicht in der Rangordnung der englischen Polizei aus. Aber die Unterwürfigkeit, mit der seine Untergebenen mit ihm sprachen, und die Bestimmtheit, mit der er mir gegenüber aufgetreten war, ließen mich zumindest annehmen, daß ich es mit einem sehr einflußreichen Mann zu tun hatte.
Cohen seufzte und unterbrach so das lange, unbehagliche Schweigen, das sich zwischen uns ausgebreitet hatte. Der Blick, mit dem er abwechselnd den Block, auf den er in unregelmäßigen Abständen etwas gekritzelt hatte, und mich maß, wirkte anklagend.
»Und das ist jetzt alles?« fragte er.
Ich nickte, hielt seinem Blick gelassen stand und nickte abermals, als er auffordernd die Stirn krauste. »Das ist alles, Captain. Mehr kann ich Ihnen nicht erzählen.«
»Sonst wirklich nichts?« vergewisserte sich Cohen. »Keine Leichen mehr im Keller, keine verrückten Attentäter mehr hinter Hecken, keine Ratten oder vielleicht Spinnen, die -«
»Verdammt, hören Sie auf«, unterbrach ich ihn, lauter und um mehrere Grade gereizter, als ich eigentlich vorgehabt hatte. Aber Cohens offen zur Schau gestelltes Mißtrauen trieb mich schier zur Raserei.
»Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann, Captain.« Ich beugte mich vor, ließ die flache Hand auf den Tisch klatschen und setzte die beleidigtste Miene auf, die ich zustande brachte. »Wenn ich Sie daran erinnern darf, Captain - es ist reines Glück, daß meine Freude und ich noch am Leben und nicht ebenfalls verschwunden sind. Sie tun so, als hätten Sie mich auf frischer Tat ertappt und verhaftet. Verdammt - ist es neuerdings strafbar, Opfer eines Mordanschlages zu sein?«
Mein Wutausbruch irritierte Cohen nicht im geringsten. Wahrscheinlich war er ganz andere Auftritte von Leuten gewohnt, die auf diesem Stuhl saßen. Und ich konnte es ihm nicht einmal übelnehmen, wenn er mir mißtraute. Es war eine Menge geschehen, seit ich das Haus meines Vaters am Ashton Place bezogen hatte. Und das Allerwenigste davon war angetan, mich in den Augen der Polizei unverdächtiger zu machen. Im Grunde war es nur einer ganzen Reihe mittlerer Wunder und Dr. Grays Redegewandtheit zu verdanken, daß ich bis zum heutigen Tage noch keine größeren Schwierigkeiten mit den Behörden bekommen hatte. Aber ich hatte während der letzten Stunden zunehmend das Gefühl bekommen, daß sich das in nächster Zukunft ändern würde. Selbst die englische Langmut kennt Grenzen.
»Sie nehmen also an, daß Lady McPhearson tot ist«, sagte er.
Jetzt war meine Geduld endgültig erschöpft. »Zum Teufel!« brüllte ich, »hören Sie auf, mir die Worte im Munde zu verdrehen, Captain! Ich nehme überhaupt nichts an! Ich weiß nur, daß wir überfallen und um ein Haar umgebracht worden wären, und daß Lady Audley verschwunden ist!«
»Und daß Sie einen Polizisten niedergeschlagen haben, der Ihnen versehentlich zu nahe gekommen ist«, fügte Cohen hinzu. »Was war das, Craven? Eine Kurzschlußhandlung, pure Angst oder ein unbeabsichtiger Ausrutscher?«
»Was soll das, Cohen?« fragte ich wütend. »Wollen Sie mir irgend etwas unterstellen?«
»Natürlich nicht, Mister Craven«, antwortete er ruhig. »Aber Sie müssen zugeben, daß Ihre Geschichte ... nun, zumindest unwahrscheinlich klingt, nicht wahr?«
Er schien auf eine Antwort zu warten, aber ich reagierte nicht. Ich konnte ihm schlecht beipflichten, nach den diversen Wutausbrüchen, die ich im Laufe des Vormittages bekommen hatte (einige davon waren geschauspielert, aber ein paar auch echt gewesen), aber ich konnte die Wahrheit seiner Worte auch schlecht abstreiten.
»Sehen Sie, Craven«, fuhr er fort, »es sind ein paar ... sonderbare Dinge geschehen, seit sie nach London gekommen sind, das müssen Sie zugeben. Sie genießen einen gewissen Ruf, nicht wahr? Und jetzt kommen Sie mit einer Geschichte von Ratten, die wie aus heiterem Himmel eine Kutsche angegriffen haben sollen.« Er schüttelte den Kopf und schlug mit dem stumpfen Ende seines Bleistiftes arhythmisch auf die Tischplatte.
»Nicht, daß ich Ihre Aufrichtigkeit anzweifeln würde, Mister Craven«, fuhr er fort, »aber -« Sein Blick wurde urplötzlich hart - »ich glaube, daß Sie uns eine ganze Menge verschweigen. Was immer heute morgen geschehen ist, ich habe noch nie gehört, daß Ratten so etwas tun.«
»Sie haben es aber«, erwiderte ich gereizt, beugte mich vor und streckte die Hände über den Tisch. Howard, Rowlf und ich waren verarztet worden, ehe man mich hierherbrachte, aber die kleinen Rißwunden waren noch deutlich zu erkennen. »Sehen Sie mich an!« schnappte ich. »Oder Howard oder Rowlf. Und die toten Ratten und Pferde haben Sie doch auch gesehen!«
»Das habe ich«, betätigte Cohen ungerührt. »Aber was beweist das? Ein paar tote Ratten, ein zerstörter Wagen, zwei bis auf die Knochen blankgefressene Pferde und eine verschwundene Lady der besten Gesellschaft Londons - das ist ein bißchen viel, um mit einem Achselzucken zur Tagesordnung überzugehen, mein lieber Craven. Meinen Sie nicht auch, daß Sie mir eine Erklärung schuldig wären?«
Er schüttelte rasch den Kopf, als ich etwas sagen wollte, und seufzte hörbar. »Nein, sagen Sie es nicht, Craven. Ich weiß, daß Sie von nichts wissen und ein unschuldig Verfolgter sind. Wahrscheinlich ist alles nur eine einzige entsetzliche Verwechslung. Diese dummen Ratten haben ihren Wagen schlichtweg mit einem Spatzennest verwechselt, das sie ausräubern wollten.« Seine Stimme troff vor Hohn. »Was glauben Sie, wie viele unschuldig in Verdacht geratene ehrsame Bürger schon auf dem Stuhl gesessen haben, auf dem Sie jetzt sitzen?«