Fröstelnd zog ich den Mantel enger um die Schultern zusammen, trat an den Straßenrand und winkte einer Mietdroschke. Die ersten beiden Fuhrwerke rollten einfach vorbei, obgleich ich deutlich erkennen konnte, daß sie nicht besetzt waren. Aber die Kutscher hatten wohl meinen zerfetzten Mantel und den blutigen, zerrissenen Anzug darunter gesehen und daraus und aus dem Anblick des Hauses, vor dem ich stand, einen zwar verständlichen, aber nichtsdestoweniger falschen Schluß gezogen. Erst der dritte Kutscher hielt an und fragte mich brummig nach der Adresse, zu der er mich fahren sollte. Als ich sie ihm nannte, erbleichte der Mann, denn Ashton Place gehörte zu den Orten, mit denen man Dinge wie goldene Toilettenschüsseln und diamantbesetzte Türknöpfe in Verbindung bringt. Aber an diesem Tag vermochte ich mich nicht recht über seine Verblüffung zu amüsieren. Ich fühlte mich niedergeschlagen und mutlos wie selten zuvor in meinem Leben. Lady Audleys Verschwinden ging mir nahe. Sehr nahe.
Als sich der Wagen in Bewegung setzte, blickte ich eher zufällig aus dem Fenster und zum Gebäude von Scotland Yard zurück.
Auf der breiten Freitreppe saß eine Ratte und starrte mir nach.
Howard hatte sich meinen Bericht schweigend angehört, aber ich wartete vergebens darauf, daß er antwortete oder auch nur mit dem Verziehen einer Miene auf meine Worte reagierte. Er war ein wenig blaß, und in seinen Augen stand noch immer der gleiche, dumpf-verzweifelte Ausdruck wie am Morgen, wenngleich er sich auch sichtlich gefangen hatte. Vielleicht wirkte er ein wenig betroffen, aber wenn, dann in der Art eines Mannes, den das, was er hörte, nicht überraschte, weil er es halbwegs erwartet hatte. Seine Hand lag auf dem Ledereinband des Buches, in dem er gelesen hatte, als ich heimkam.
Es war einer der Bände aus der Geheimbibliothek meines Vaters: Das Chaat Aquadingen. Howard wußte, wie wenig gern ich es sah, wenn er in diesem Buch las. Aber ich hatte kein Wort darüber verloren. Er kannte die Gefahr, die diese verbotenen Bücher darstellten, wahrscheinlich besser als ich.
»Ich verstehe einfach nicht, was das bedeutet«, sagte ich - zum wahrscheinlich zehnten Mal, seit ich hier herauf in die Bibliothek gekommen war.
»Es bedeutet, daß das, was geschehen ist, kein Zufall war«, sagte er mit seltsam flacher, ausdrucksloser Stimme. »Die Polizei glaubt, daß die Ratten die Tollwut hatten oder wir sie irgendwie gereizt haben, nicht?« Die Frage war rein rethorischer Art; wie ich und Rowlf war er stundenlang verhört worden. Nur daß er das Glück gehabt hatte, nicht gerade Wilbur Cohen in die Hände zu fallen.
»Ich weiß nicht, was die Polizei glaubt«, antwortete ich rasch. Ich hatte ihm nicht viel von Cohen erzählt; wir hatten dringendere Sorgen als einen Polizeicaptain, der mich aufs Korn nehmen wollte. »Aber ich nehme es an.«
»Es stimmt nicht«, antwortete Howard. »Das war eine Falle, Robert. Eine kaltblütige berechnete Falle. Die Ratten haben diesen armen Hund zerrissen, damit du es siehst. So etwas«, fügte er mit einem entschiedenen Kopfschütteln hinzu, »tun keine Tiere.«
Seine Worte ließen mich schaudern. Ich hatte geahnt, daß es so war, aber es gab einen Unterschied zwischen Ahnen und Wissen.
»Jemand hat sie geschickt«, flüsterte ich stockend.
Howard nickte. »Nicht jemand«, sagte er betont. »Sie. Dieses arme Tier mußte um einer sinnlosen Machtdemonstration willen sterben; nur, um uns zu zeigen, wie groß ihre Macht ist.« Sein Blick wurde hart, gleichzeitig erschien wieder dieser Ausdruck von Vorwurf darin, mit dem er mich schon die ganze Zeit gemustert hatte und den ich mir nicht erklären konnte.
»Ich habe über alles nachgedacht, während du weg warst«, fuhr er fort. Er lächelte, sehr müde und rasch, zündete sich umständlich eine Zigarre an und ließ die freie Hand mit einer erschöpften Bewegung auf den Einband des Chaat Aquadingen hinunterfallen. »Du hast mir alles erzählt?« vergewisserte er sich. »Du hast nichts vergessen, keine Kleinigkeit? Nichts weggelassen, auch wenn es dir unwichtig erscheint?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Nichts. Aber es war alles so ... so unwirklich. So ...falsch.«
Müde beugte Howard sich in seinem Sessel vor, klappte das Chaat auf und ließ die dünnen Pergamentblätter zwischen Daumen und Zeigefinger hindurchrascheln. »ER, DESSEN NAMEN MAN NICHT AUSSPRICHT - weißt du wirklich nicht, wer damit gemeint ist? Hast du so wenig in den Schriften gelesen, die dir dein Vater hinterlassen hat?«
Ich starrte ihn an, und plötzlich hatte ich das Gefühl, von einer eisigen, unsichtbaren Hand berührt zu werden. Ein kurzer, rascher Schmerz zuckte wie eine Nadel durch mein Herz. »Du ... du meinst ...«
»Cthulhu«, sagte Howard ungerührt. »Ja. Die Zeit seines Erwachens rückt heran. Aber das«, fügte er rasch hinzu, als er mein abermaliges Erschrecken bemerkte, »muß nichts bedeuten. Diese Wesen sind es gewohnt, in anderen Zeiträumen zu rechnen als wir. Dieses Heranrücken kann durchaus noch hundert Jahre bedeuten. Oder auch tausend.«
»Oder ein paar Tage«, sagte ich finster.
»Oder ein paar Tage«, bestätigte Howard ungerührt. »Ja. Aber was mir trotzdem die größeren Sorgen bereitet, ist dieses andere, von dem das Mädchen gesprochen hat. DAS TIER.« Er seufzte, sog an seiner Zigarre und stieß eine übelriechende Qualmwolke in meine Richtung.
»Ich habe versucht, die Antwort in diesem Buch zu finden«, fuhr er mit einer Kopfbewegung auf das Chaat Aquadingen fort, »aber leider umsonst. Es sind alle möglichen Dinge erwähnt, aber nichts, was die Bezeichnung DAS TIER trüge. Wenn wir das NECRONOMICON noch hätten ...«
»Wir haben es aber nicht«, unterbrach ich ihn grob. Howard sah mich mißtrauisch an. Er argwöhnte noch immer, daß ich eine weitere Abschrift dieses Buches besitzen würde, und er kam der Wahrheit damit auch näher, als mir lieb war. Aber es gibt ein paar Dinge, in denen ich nicht bereit bin, auch nur um einen Deut von meinen Prinzipien abzuweichen. Das NECRONOMICON gehört dazu.
»Schade«, sagte er schließlich.
Ich nickte. »Sehr schade«, bestätigte ich. »Aber wir werden auch so herausfinden, was diese sonderbare Warnung zu bedeuten hat.«
Die Andeutung eines Lächelns erschien auf Howards müden Zügen. »Darf ich daraus schließen, daß du nicht vorhast, sie dir zu Herzen zu nehmen?«
»Ich habe nicht vor, Lady Audley im Stich zu lassen, wenn es das ist, was du meinst«, sagte ich. »Ich bin sicher, daß sie noch lebt, Howard. Und ich fühle mich verantwortlich für das, was ihr geschehen ist. Dieser Narr Cohen hat nicht einmal so unrecht mit seinen Vorwürfen.« Ich stand auf, ging zum Fenster und blickte durch einen Spalt in den Gardinen auf die Straße. London bot einen erbärmlichen Anblick, bedachte man, daß Mai war und die Stadt eigentlich unter der Sommerhitze stöhnen sollte. Von Westen her trieben immer wieder düstere graue Wolken über die Stadt und tauchten den Tag in graues Licht und unangenehme Kälte.
»Es ist ein bißchen spät, sich Vorwürfe zu machen, findest du nicht?« fragte Howard.
Ich nickte, ohne mich zu ihm herumzudrehen. »Sicher. Trotzdem trifft mich die Schuld an allem, Howard. Ich hätte diesen Wahnsinn niemals beginnen dürfen. Alles hat auf dieser verdammten Seance ange...«
Ich sprach nicht weiter. Irgend etwas hinter meiner Stirn machte deutlich hörbar Klick.
Und plötzlich wußte ich es. Plötzlich hörte ich noch einmal die Worte, die Lady Audley während der unseligen Seance ausgestoßen hatte, sah ich noch einmal das Mädchen, dessen Bild mir der Rattenmann geschickt hatte, die bizarre Welt, in der es existierte, das Wesen, das es begleitete und das ich für unwichtig gehalten hatte. Plötzlich fügten sich die Puzzleteile zu einem Bild.