DAS TIER ...
Die schwarze Ziege.
Die schreckliche Ziege mit den tausend Jungen ...
Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich herum. Mein Gesicht muß eine Maske des puren Entsetzens gewesen sein, denn Howard sprang auf und blickte mich erschrocken an. »Was ist los?« fragte er.
Ich antwortete nur mit zwei Worten, aber ich sah, daß sie ihn mit der gleichen Wucht trafen wie mich.
»Shub-Niggurath, Howard«, sagte ich. »DAS TIER ist nichts anderes als Shub-Niggurath. Einer der zwölf GROSSEN ALTEN!«
Howard starrte mich an, und ich sah, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Er hatte sofort begriffen, aber auch er schien sich einfach gegen den Gedanken zu wehren; die Vorstellung, daß das Unvorstellbare vielleicht doch geschehen könnte; hier, vor unser aller Augen. Daß einer der Millionen Jahre alten Dämonen erneut zu schrecklichem Leben erwachen könnte.
»Aber ... aber warum?« stammelte er schließlich. »Und was ... was hat Lady Audley damit -«
»Vielleicht nichts«, unterbrach ich ihn. »Vielleicht war sie nur im falschen Moment am falschen Ort, oder -« Ich brach ab.
Aus der Standuhr drang ein schabendes Geräusch.
Es war nicht einmal besonders laut, aber nach allem, was geschehen war, reichte es aus. Howard und mich für Augenblicke vor Schrecken erstarren zu lassen.
Der Laut wiederholte sich, und diesmal war er deutlicher: es war das Kratzen harter, scharfer Krallen auf Holz. Rattenkrallen ...
Mein Herz schien einen Schlag zu überspringen und dann doppelt schnell und schmerzhaft weiterzuhämmern.
Die Tür der riesigen Standuhr schwang lautlos auf. Ich selbst hatte sie am vergangenen Abend geschlossen und mich gründlich davon überzeugt, daß das kleine Messingschloß auch eingerastet war, aber jetzt öffnete sie sich, schwang wie von Geisterhand bewegt nach außen, und dahinter ...
Es war nicht dieser entsetzliche, lebende Korridor, den wir in der vergangenen Nacht erblickt hatten, aber ein Anblick, der in seiner absurden Normalität beinahe ebenso erschreckend war:
Es war, als hätte sich die Uhr in ein bizarres Fenster verwandelt. Dort, wo gestern noch das gräßliche Innere des Dimensionstunnels gewesen war, erstreckte sich nun etwas, das ich erst auf den zweiten Blick als das erkannte, was es war: ein Friedhof. Ein Friedhof, der offenbar schon vor langer Zeit aufgegeben worden war, denn die meisten Gräber waren verwahrlost. Kreuze und Stein waren umgeworfen, und hier und da war die Erde über den verfaulenden Särgen zusammengesackt.
Jedenfalls war es das, was ich im allerersten Moment glaubte. Dann erkannte ich, was es wirklich war: Die Gräber waren nicht eingesunken, sondern aufgebrochen, und dazwischen ... Ratten. Tausende von häßlichen, fetten Ratten, die zwischen den geschändeten Gräbern hin und her huschten und die schmalen Kieswege zwischen den Gräbern wie eine lebende Decke füllten. Überall zwischen den Gräbern war Bewegung, schwarze, huschende Bewegung, ein Wallen und Wogen und Schieben in keine bestimmte Richtung, als wäre der Erdboden selbst zum Leben erwacht. Zahllose Krallen rissen und scharrten den Boden auf. Die Ratten waren zu Millionen gekommen, und über die Felder und Straßen strömten noch immer weitere herbei.
Diesmal begriff Howard einen Sekundenbruchteil vor mir, was wir da sahen.
»St. Aimes!« flüsterte er. Seine Stimme bebte vor Entsetzen. »Das ... das muß St. Aimes sein, Robert!«
Ich hätte nicht einmal dann antworten können, wenn ich es gewollt hätte. Wie gelähmt starrte ich das entsetzliche Bild an, unfähig, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen oder auch nur wirklich zu begreifen, was ich da sah, geschweige denn, warum. Selbst, als sich die Uhr nach einer Weise auf die gleiche, gespenstische Art wieder schloß, starrte ich die Tür noch endlos an. Meine eigene Stimme klang wie die eines Fremden in meinen Ohren, als ich das entsetzte Schweigen endlich brach.
»Wir müssen dorthin, Howard«, sagte ich mühsam.
Und dieses Mal widersprach er mir nicht.
Es ging auf drei Uhr zu, als ich den Bahnhof erreichte. Dr. Gray war eine Stunde zuvor aus dem Yard zurückgekommen, aber er hatte nicht viel gesagt. Der weißhaarige Anwalt war merklich kleinlauter gewesen als am Mittag, und auf seinem Gesicht hatte ein Ausdruck gelegen, als hätte er mit Cthulhu um seine Seele gepokert und verloren. Der Dämpfer, den er Cohen hatte versetzen wollen, schien wohl eher zu einem Bumerang geworden zu sein. Die Blicke, mit denen er mich musterte oder die er und Howard tauschten, wenn sie glaubten, ich sähe es nicht, sprachen Bände. Es sah ganz so aus, als neige mein friedliches Leben als Salonlöwe in London sich endgültig dem Ende entgegen.
Howard und er waren überein gekommen, daß es sicherer war, nicht mit dem Wagen nach St. Aimes zu fahren, sondern den Vorortzug zu nehmen. Gray sollte so lange in meinem Haus bleiben und die Stellung halten, bis wir aus St. Aimes zurück waren. Sein Einfluß und juristisches Können mochte auf jeden Fall reichen, mir bis zu unserer Rückkehr Luft zu verschaffen. Und wenn wir nicht zurückkamen ... Nun, dann hatte Cohen ohnehin erreicht, was er wollte. Er hatte mir zwar verboten, die Stadt zu verlassen, aber ich hatte das ziemlich sichere Gefühl, daß er ganz froh sein würde, wenn ich dieses Verbot mißachtete und Fersengeld gab.
Trotzdem waren wir vorsichtig gewesen. Cohen war kein Trottel. Ich war ziemlich sicher, daß er mein Haus beobachten ließ, und so waren Howard, Rowlf und ich zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedene Richtungen aus dem Haus gegangen, wobei ich mich auf Howards Drängen hin noch zusätzlich mit einem viel zu weiten Mantel und einer albernen Kapuze getarnt hatte. Anschließend war ich eine gute halbe Stunde kreuz und quer durch die Stadt gegangen und gefahren, durch die Markthallen und ein großes Kaufhaus gelaufen, in drei verschiedenen Kneipen gewesen, die ich allesamt durch die Hintertür verlassen hatte, und sogar über ein paar Dächer geklettert und ein Stück weit durch die Tunnel der gerade im Bau befindlichen Untergrundbahn gerannt. Nicht einmal der Urvater sämtlicher Spürhunde hätte meine Fährte jetzt noch verfolgen können.
Jetzt war ich auf dem Bahnhof und wartete auf den Zug. Trotz der Odyssee, die ich hinter mir hatte, blieb noch eine gute halbe Stunde Zeit, die ich damit verbrachte, möglichst unauffällig auszusehen und nach Howard und Rowlf Ausschau zu halten, die sicher längst auf mich warteten. Ich fühlte mich nicht sonderlich wohl; trotz meiner Verkleidung und der Mühe, die ich mir gegeben hatte, einen hypothetischen Verfolger abzuschütteln, traute ich dem scheinbaren Frieden nicht. Cohen war kein Idiot. Wenn er mich beschatten ließ, und wenn sein Mann ihm mitteilte, daß er meine Spur verloren hatte, würde er rasch die richtigen Schlüsse ziehen. Das einzige, was mich beruhigte, war die Tatsache, daß der Bahnsteig nahezu vor Menschen aus den Nähten platzte; es schien eine Unzahl von Leuten zu geben, die die Stadt verlassen wollten. Vielleicht war der Bahnsteig auch nur zu klein. Im Augenblick gab mir die Menge jedenfalls genügend Deckung, selbst wenn Cohen einen seiner Männer hergeschickt hatte. Und wenn wir erst einmal im Zug waren, würden wir sehen.
Eine Bewegung auf der anderen Seite des Bahnsteiges erregte meine Aufmerksamkeit. Rasch trat ich hinter eine der verwitterten Eisensäulen, die das Dach trugen, schlug die Kapuze ein wenig zurück und versuchte, über die Köpfe der dicht gedrängten Menge hinwegzuschauen.
Rowlfs hektisch gerötetes Bulldoggengesicht war unverkennbar, selbst über die große Entfernung hinweg. Er stand, beide Hände in die Jackentaschen vergraben und ungeduldig mit den Füßen aufstampfend, vor der Tafel mit den Abfahrtszeiten und blickte abwechselnd auf die kleingedruckten Buchstaben und die Normaluhr, die über seinem Kopf von der Decke hing. Dann schlug er den Jackenkragen hoch und ging mit weit ausgreifenden Schritten zu der Teebude am anderen Ende des Bahnhofes hinüber. Ich überlegte einen Moment, ob ich ihm folgen sollte, entschied mich aber dann dagegen. Die Gefahr, erkannt zu werden, war zu groß. Wenn wir uns erst im Zug trafen, waren wir auf jeden Fall sicherer.