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Der Gedanke ließ mich lächeln. Ich begann mich schon zu benehmen und - was schlimmer war - so zu denken, als wäre ich auf der Flucht. Dabei sollten die Männer, vor denen ich mich im Moment verbarg, meine Verbündeten sein. Es war zum Verrücktwerden!

Ich sah auf die Uhr, stellte fest, daß ich noch viel Zeit bis zur Abfahrt hatte, und wandte mich fröstelnd um, um ins Bahnhofscafe zu gehen. Es brachte niemandem etwas, wenn ich eine halbe Stunde hier herumstand.

Ich betrat das Lokal, suchte mir einen Platz in der hintersten Ecke, weit von der Tür entfernt und so, daß ich den Eingang im Auge behalten konnte, und bestellte einen heißen Kaffee.

Nach einer Weile näherten sich Schritte meinem Tisch. Ich sah auf und griff gleichzeitig in die Tasche, um eine Münze hervorzuholen.

Aber es war nicht der Ober, den ich erwartet hatte.

Der Mann vor mir war ein Riese mit schütterem Haar, einer dünnen, goldgefaßten Brille und dem grimmigsten Gesichtsausdruck, der mir jemals untergekommen war. Und diesmal trug er nicht den abgewetzten grauen Anzug, mit dem ich ihn in seinem Büro gesehen hatte, sondern die schwarze Uniform der Londoner Polizei, auf deren Schultern die Goldtressen seines Captainsranges blitzten.

»Cohen!« entfuhr es mir. »Sie?«

Er nickte - auf eine sehr unheilverkündende, abgehackte Weise -, zog sich unaufgefordert einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. Das wackelige Möbelstück ächzte unter seiner Leibesfülle, aber Cohen schien es nicht einmal zu bemerken. Finster starrte er mich durch die halb beschlagenen Gläser seiner Brille an und scheuchte den Kellner, der mit meinem Kaffee herankam, mit einer barschen Handbewegung davon.

»Es freut mich, daß Sie sich wenigstens noch an meinen Namen erinnern können, Craven«, sagte er. »Um ehrlich zu sein, hatte ich schon fast befürchtet, daß sie unser Gespräch vom heutigen Morgen bereits vergessen haben könnten.«

Ich ignorierte den lauernden Unterton in seiner Stimme, legte den Kopf auf die Seite und sah ihn scharf an. »Worauf wollen Sie hinaus, Captain?« fragte ich.

Cohen lächelte kalt. »Nichts, Craven, nichts. Sie wollen verreisen?«

»Ich folge nur Ihrem Rat«, antwortete ich bissig. »Heute morgen konnten Sie mich nicht schnell genug aus der Stadt herausbekommen, oder? Jetzt tue ich es.«

»Ohne Koffer?« fragte Cohen.

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich reise immer mit kleinem Gepäck. Also - was wollen Sie?«

»Sie haben es sehr eilig, wie?« murmelte Cohen lauernd. »Man könnte meinen, Sie laufen vor irgend etwas davon.«

»Sie selber haben mir gesagt -«

»Ich weiß, was ich Ihnen gesagt habe, Mister Craven«, unterbrach mich Cohen. Plötzlich klang seine Stimme ganz kalt, hart und unnachgiebig wie Stahl. »Aber das war heute morgen, Craven. Mittlerweile haben sich gewisse Dinge geändert.«

»Gewisse Dinge?« wiederholte ich lauernd.

»Sehen Sie, Craven, selbst Scotland Yard ist nicht so dumm, wie ihr Amerikaner zu glauben scheint«, sagte Cohen. Seine Stimme wurde triumphierend, als er sich vorbeugte und mich anstarrte. »Nachdem Sie fort waren, haben wir gewisse ... Erkundigungen eingezogen, verstehen Sie?«

»Erkundigungen?« Ich mußte meine Verwirrung nicht einmal heucheln. »Was meinen Sie damit, Captain?«

Cohen seufzte. »Nun, wir haben uns beispielsweise gefragt, was jemand wie Lady Audley zu einer so frühen Stunde bei jemandem wie Ihnen tut, Craven. Und dabei sind mir einige Dinge aufgefallen.« Er schwieg einen Moment und schien darauf zu warten, daß ich antwortete, aber den Gefallen tat ich ihm nicht.

»Das war kein Zufall, nicht wahr?« fuhr er endlich fort. »Sie waren gestern abend zusammen auf einem Empfang.«

Mein erschrockenes Zusammenzucken entging Cohen natürlich keineswegs.

»Gerade vor zwei Stunden habe ich mit Lord Penderguest gesprochen«, sagte er ruhig. »Vielleicht können Sie sich ungefähr vorstellen, was er mir erzählt hat?«

»Ungefähr«, sagte ich einsilbig.

Cohen lächelte böse. »Was ist nach Ihrer kleinen Seance passiert, Craven?« fragte er. »Sie und Ihr Freund Howard haben Lady McPhearson nach Hause gebracht - wie die Dienerschaft sagt, in einem schrecklichen Zustand.«

»Das ... ist alles nicht so, wie Sie glauben, Captain«, sagte ich. Ich war der Verzweiflung nahe. »Ich kann Ihnen das erklären, aber -«

»Aber nicht hier«, unterbrach mich Cohen. Mit einem Male war seine Stimme so hart wie Eisen. »Sie werden es mir erklären, das schwöre ich. Craven. Sie werden die Wahrheit sagen, in meinem Büro auf Scotland Yard.«

»Aber ich kann nicht mit!« protestierte ich. »Ich muß nach -«

»Ja?«

Ich starrte ihn an, biß mir auf die Unterlippe und schwieg.

»Was ist wirklich passiert?« fragte er. »Warum war Lady Audley bei Ihnen, Craven? Was wollte sie?«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte ich stur.

Cohen grinste böse. »Das macht nichts, Craven«, sagte er. »Wir haben sehr viel Zeit, uns über alles zu unterhalten. Folgen Sie mir.«

Ich widersprach nicht, sondern erhob mich gehorsam von meinem Platz. Es war völlig sinnlos, weiter mit ihm diskutieren zu wollen, oder gar einen Fluchtversuch zu unternehmen; Cohen wartete nur auf einen handfesten Grund, mich in Ketten zurück zum Yard zu schleifen.

Er ging im Sturmschritt neben mir her, blieb aber schon nach wenigen Schritten wieder stehen und deutete mit einer Kopfbewegung über den Bahnsteig.

Ich sah gleich, was er meinte, Rowlf und Howard war es nicht besser ergangen als mir. Rowlf stand mit geballten Fäusten und blitzenden Augen einem guten halben Dutzend unglaublich unauffällig gekleideter Männer gegenüber und schien sich noch nicht entschieden zu haben, ob er sie verdreschen oder ihnen folgen sollte, während Howard mit steinernem Gesicht zwischen zwei von Cohens Männern zum Ausgang schritt.

»Sie sehen, Craven«, sagte Cohen süffisant, »daß Sie sich das ganze alberne Versteckspiel hätten sparen können.«

»Ich dachte, ich hätte Ihren Mann abgeschüttelt«, sagte ich düster.

Cohen blinzelte verwirrt. »Welchen Mann?« fragte er. »Ich habe niemanden auf Sie angesetzt, Craven. Wir haben hier auf Sie gewartet.«

Der Wagen wartete vor dem Bahnhof. Es war ein großes, kastenförmiges Gefährt, von gleich vier Pferden gezogen und mit kleinen, vergitterten Fenstern, so stabil wie ein rollender Safe und ungefähr genauso unauffällig. Als Cohen mich mit einem schadenfrohen Lächeln aufforderte, hineinzusteigen und auf einer der ungepolsterten Bänke Platz zu nehmen, hatte sich bereits ein regelrechter Menschenauflauf um den Wagen gebildet, und wahrscheinlich würde es spätestens morgen kein anderes Stadtgespräch mehr geben als das, daß der sonderbare Nichtstuer, der vor einem halben Jahr in der Stadt aufgetaucht war, endlich dorthin gebracht worden war, wo er hingehörte.

Cohen kletterte hinter mir in den Wagen, schloß die Tür jedoch nicht, sondern setzte sich mir gegenüber auf eine Bank und starrte mich mit unbewegtem Gesicht an.

»Sie begehen einen schrecklichen Fehler, Cohen«, sagte ich. Nicht, weil ich mir ernsthaft einbildete, ihn überzeugen zu können, sondern nur, um überhaupt etwas zu sagen und das Schweigen nicht übermächtig werden zu lassen.

Cohen nickte ungerührt. »Ich weiß«, sagte er. »Es ist alles nur ein furchtbarer Irrtum. Ich werde mich bei Ihnen entschuldigen, sollte es sich wirklich als solcher herausstellen. Schriftlich, wenn Sie es möchten.«

»Sie verstehen überhaupt nichts«, sagte ich zornig. »Wir sind alle in schrecklicher Gefahr, Captain.«