»Und Sie waren gerade unterwegs, um diese furchtbare Gefahr von uns abzuwenden, nicht wahr?« Cohens Augen blitzten spöttisch. »Hören Sie mit dem Unsinn auf, Craven.«
»Es ist kein Unsinn«, beharrte ich. »Aber es ist wohl zwecklos, darüber mit Ihnen zu reden.«
Männer wie Captain Cohen standen mit beiden Beinen einfach zu fest auf dem sogenannten Boden der Tatsachen, um zu akzeptieren, daß es Dinge wie Geister und Dämonen wirklich gab. Kein Mensch würde ihn in diesem Punkt umstimmen können. Das hieß - kein normaler Mensch ...
»Sie wollen nicht reden, Craven«, schnappte Cohen. »Sie wissen etwas über Lady McPhearsons Verschwinden!«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie überhaupt reden, Cohen«, sagte ich. Ich sprach sehr leise, und meine Stimme war fast tonlos. Cohen runzelte die Stirn, und in seinem Blick glomm ein sanftes, mißtrauisches Flackern auf, aber ich sprach weiter, ehe er wirklich Verdacht schöpfen und sich vielleicht instinktiv zur Wehr setzen konnte.
Es kostete mich entsetzliche Überwindung; nicht etwa, weil es besonders schwer gewesen wäre, sondern weil ich es stets verabscheut habe, das magische Erbe meines Vaters auf diese Weise zu mißbrauchen. Es ist entwürdigend, den Willen eines Menschen zu brechen, für beide Beteiligten. Aber ich hatte keine andere Wahl, wenn ich Lady Audley - und vielleicht zahllose andere - noch retten wollte. Ich mußte nach St. Aimes.
Meine Stimme wurde noch flacher, geriet zu einem monotonen, einlullendem Singsang, dessen Worte im Grunde bedeutungslos waren. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Captain Cohen«, sagte ich. »Ich kenne keine Lady McPhearson, und ich weiß auch nicht, was ich hier soll. Wir sind doch Freunde, Mister Cohen. Ich will niemandem etwas Übles, und das wissen Sie. Wir sind Verbündete. Sie haben keinen Grund, mir in irgendeiner Form zu mißtrauen. Sie werden das einsehen, sobald wir Scotland Yard erreicht haben, und Ihren Vorgesetzten berichten, daß ich vollkommen unverdächtig bin. Das stimmt doch, oder?«
Cohens Oberlippe begann zu zittern. Glitzernder Schweiß erschien in feinen Perlen auf seiner Stirn. Aber es war bereits zu spät. Gleichzeitig mit meinen Worten hatte ich nach seinem Geist gegriffen und seine Abwehr unterlaufen. Noch versuchte etwas in ihm, sich zu wehren, aber ich spürte, daß ich den Kampf bereits halb gewonnen hatte. Gottlob war Cohen geistig nicht halb so stark, wie sein aggressives Auftreten vermuten ließ. Aber das traf man häufig bei Menschen seiner Art. Noch wenige Sekunden, und er war vollends in meiner Hand.
»Ich ... bin mir nicht sicher«, murmelte er. Seine Stimme klang schleppend; ich hörte, wie schwer es ihm fiel, überhaupt zu sprechen.
»Aber Captain«, sagte ich. »Ich bitte Sie. Sie wissen genau, daß ich recht habe. Sie werden sehen, wir werden noch gute Freunde werden. Sie und ich stehen auf der gleichen Seite. Sehen Sie das nicht ein?«
Er nickte. Sein Adamsapfel hüpfte hektisch auf und ab, und das Netz feiner kalter Schweißtropfen auf seiner Stirn wurde dichter. Ich spürte, wie sein innerer Widerstand zu zerbrechen begann. »Doch«, flüsterte er. »Sie sind ... mein Verbündeter. Ich habe ... habe mich geirrt. Aber ich werde alles klarstellen.«
In diesem Moment wurde die Tür mit einem krachenden Schlag bis an die Wand zurückgeschmettert, und Rowlf stapfte, lauthals schimpfend, in den Wagen hinein. Cohen fuhr wie unter einem Schlag zusammen, blinzelte ein paarmal, als erwache er unversehens aus einem tiefen, betäubenden Schlaf, starrte mich eine halbe Sekunde lang mit blankem Entsetzen in den Augen an - und riß einen sechsschüssigen Revolver unter dem Jackett hervor. Das Knacken des Hahnes hallte wie ein Peitschenschlag in meinen Ohren wieder, als er die Waffe auf mich anlegte.
»Rühren Sie sich nicht, Craven«, krächzte er. Seine Stimme bebte und drohte überzukippen, und seine Lippen zitterten so stark, daß ihm der Speichel aus dem Mundwinkel lief. »Tun Sie nichts, Craven«, keuchte er. »Ich warne Sie nicht noch einmal. Versuchen Sie es nicht noch einmal.«
Rowlf starrte verdattert von mir zu ihm und dann wieder zu mir zurück. »Wasnlos?« fragte er.
»Nichts, Rowlf«, antwortete ich gepreßt. »Gar nichts ist los. Vielen herzlichen Dank auch.«
»Hä?« machte Rowlf. Aber ich achtete nicht mehr auf ihn, sondern starrte angstvoll auf die Mündung von Cohens Revolver, die unverwandt auf meine Stirn deutete. Ich wußte, daß er schießen würde, wenn ich auch nur hustete.
»Ich weiß nicht, was das gerade war, Craven«, fuhr Cohen nach einer Weile fort. »Und ich will es auch gar nicht wissen. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich Sie erschieße, wenn Sie es noch einmal versuchen.«
Erneut betrat jemand den Wagen, und als ich aufsah, erkannte ich Howard, der von zwei von Cohens Männern begleitet wurde. Auf den Gesichtern der beiden Beamten erschien ein gleichermaßen erschrockener wie fragender Ausdruck, als sie die Waffe in Cohens Hand gewahrten. Aber ihr Erscheinen entspannte auch die Situation. Cohen atmete hörbar auf, ließ den Hahn behutsam zurückschnappen und schob die Waffe wieder unter seine Jacke. Er sagte kein Wort.
Die Tür wurde geschlossen, und der Wagen fuhr an, kaum daß Howard und seine beiden Begleiter auf den unbequemen Bänken Platz genommen hatten. Die beiden Polizisten versanken in das gleiche, angespannte Schweigen, das auch von Cohen und uns Besitz ergriffen hatte, während sich der Wagen schaukelnd durch den dichten Nachmittagsverkehr quälte.
Eine Weile fuhren wir schweigend dahin, dann schienen wir die City hinter uns zu haben, denn der Wagen wurde schneller, und der Verkehrslärm, der bisher durch die Wände gedrungen war, nahm hörbar ab.
»Was war los?« fragte Howard schließlich. Die Frage galt mir, aber er sah Cohen dabei an.
Ich wollte antworten, aber der Polizeicaptain schnitt mir mit einer befehlenden Geste das Wort ab. »Keine Unterhaltungen«, sagte er. »Sie werden nachher mehr Gelegenheit zum Reden haben, als Ihnen lieb ist.«
Howards Gesicht verdüsterte sich. »Was soll das heißen?« fragte er scharf. »Sie können mir schlecht das Reden verbieten, Mister.«
»Und ob ich das kann«, schnauzte Cohen. Er wirkte noch immer verstört, aber er verbarg seine Unsicherheit jetzt wieder hinter einem bissigen Auftreten. »Sie werden sich noch wundern, was ich alles kann. Ich kann zum Beispiel -«
Wir erfuhren nie, was Cohen beispielsweise gekonnt hätte, denn in diesem Augenblick hielt der Gefangenenwagen mit einem so harten Ruck an, daß wir allesamt von den Bänken geworfen wurden und wild durcheinanderfielen. Ein zorniger Schrei drang durch das Holz der Wände, dann das erschrockene Kreischen eines Pferdes, dann begann ein Mann zu keifen, ohne daß ich die Worte verstanden hätte.
Mühsam rappelte ich mich hoch, schob Rowlfs Fuß von meinem Gesicht herunter und versuchte, meine Beine aus dem Gewirr von Gliedern und Körpern zu entflechten, in dem sie verschwunden waren. Das Schreien draußen vor dem Wagen nahm zu, und plötzlich ging ein harter Schlag durch das Gefährt, der uns abermals zu Boden schleuderte. Diesmal dauerte es länger, bis ich mich wieder aus dem Durcheinander befreit hatte und aufstand.
Das erste, was ich sah, war Cohen, der auf eine Bank gestiegen war und schon wieder mit seinem Revolver herumfuchtelte. »Keine Bewegung, Craven«, sagte er drohend. »Ich werde schießen, wenn Sie auch nur einen falschen Furz lassen, das schwöre ich Ihnen!«
»Idiot«, sagte Howard gelassen.
Cohen fuhr herum, schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen und wedelte mit dem Revolver vor Howards Gesicht. »Ich verbitte mir das!« brüllte er. »Ich belange Sie wegen Beamtenbeleidigung.«
Howard seufzte und schnippte mit einer betont gelangweilt wirkenden Bewegung ein imaginäres Stäubchen von seiner Jacke. »Tun Sie das, Mister Cohen«, sagte er freundlich. »Aber vielleicht sehen Sie vorher nach, was da draußen passiert ist.«