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Ich erreichte mein Grundstück, jagte tief über den Hals des Pferdes gebeugt durch das offenstehende Gartentor und brachte das Tier unmittelbar vor der Haustür zum Stehen. Mit einem Satz war ich aus dem Sattel, verlor auf dem kiesbestreuten Weg prompt den Halt und schlug der Länge nach hin, während das Pferd mit einem erleichterten Schnauben herumfuhr und noch ein paar Schritte weiter trabte, ehe es stehenblieb und an einem der sorgsam gepflegten Rhododendronbüsche zu zupfen begann. Mein Gärtner würde einen Herzschlag bekommen.

Ich rappelte mich hoch und rannte die Treppe hinauf. Die Tür wurde aufgerissen, gerade als ich die Hand nach dem Klopfer ausstrecken wollte, und ein verblüffter Diener starrte mir entgegen. Ich stürmte an ihm vorbei, warf Hut und Mantel in Richtung der Garderobe und rannte, immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.

»Aber Sir!« rief er verwirrt. »Was -«

Ich machte eine abwehrende Bewegung, blieb aber auf dem letzten Absatz noch einmal stehen und wandte mich zu ihm um. »Fragen Sie nicht, Henry«, sagte ich. »Dazu ist jetzt keine Zeit. Ich habe wichtige Dinge zu erledigen. Ich werde mich in der Bibliothek einschließen. Sorgen Sie dafür, daß mich niemand stört. Und später gehe ich aus dem Haus. Aber Sie brauchen nicht auf mich zu warten - es kann Mitternacht oder später werden.«

»Und morgen, Sir?« fragte Henry.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich und ging weiter. »Wenn Howard zurückkommt, sagen Sie ihm, daß ich mich melde, sobald ich Genaueres weiß.« Damit stürmte ich weiter und ließ einen total frustrierten Henry zurück. Erst, als ich die Bibliothek erreicht und die Tür hinter mir abgeschlossen hatte, gestattete ich mir den Luxus, stehenzubleiben, für die Dauer von vier, fünf Atemzügen die Augen zu schließen und Ordnung in meine Gedanken zu bringen.

Wenigstens versuchte ich es.

Schließlich stieß ich mich von der Tür ab, ging langsam durch den Raum und blieb vor dem Kamin stehen. Meine Finger tasteten über den goldgeschnitzten Rand des Ölgemäldes, das darüber hing. Ein leises Klicken erscholl, und das Bild schwang wie von Geisterhand bewegt zur Seite.

Dahinter kam die wuchtige Tür eines Wandsafes zum Vorschein. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um das Rad zu erreichen, stellte die Kombination ein und drückte einen weiteren, verborgenen Knopf. Gleichzeitig formte ich in Gedanken die geheimen Worte, die den Schutzzauber außer Kraft setzten, mit dem ich den Safe zusätzlich versehen hatte.

Ich hatte lange genug auf der anderen Seite des Gesetzes gelebt, um mir nicht ernsthaft einzubilden, daß der Safe einem ernstgemeinten Versuch, ihn zu knacken, standhielt. Aber wer versuchte, diesen Schrank gegen meinen Willen zu öffnen, der würde sein blaues Wunder erleben. Es war nicht direkt gefährlich - aber welchem Einbrecher würde es gefallen, monatelang von einer Bande halbmetergroßer leuchtendgrüner Kobolde verfolgt zu werden, die lauthals darüber diskutierten, welches seiner Verbrechen wohl das raffinierteste gewesen war?

Ich öffnete den Safe, schob seinen Inhalt zur Seite und öffnete auch das Geheimfach, das hinter dem eigentlichen Geldschrank lag. Sein Inhalt bestand aus fünf kleinen, sternförmigen Steinen aus porösem grauem Fels, so groß wie eine Münze und mit einem abstrakten Muster versehen, das so roh war, als wäre es von Kinderhand eingeschnitten.

Behutsam nahm ich einen der Sternsteine hervor, steckte ihn in die Rocktasche und schloß nacheinander das Geheimfach, den Safe und das Bild wieder. Ich besaß fünf dieser magischen Amulette, die meines Wissens nach die einzige Möglichkeit überhaupt darstellten, einem der GROSSEN ALTEN selbst Paroli zu bieten. Nicht einmal sie vermochten ihn endgültig zu vernichten - vielleicht war das überhaupt unmöglich -, aber sie waren die einzigen Waffen, die ich überhaupt gegen die Dämonen aus der Vergangenheit ins Feld führen konnte; und somit die besten.

Hinter mir ertönte ein leises Quietschen.

Eine halbe Sekunde lang war ich fast erstarrt vor Schrecken. Dann fuhr ich herum und riß den Stockdegen aus seiner Umhüllung.

Auf meinem Schreibtisch saß eine Ratte.

Es war ein besonders fettes, häßliches Exemplar, grau und struppig und so groß wie eine Katze, mit Krallen, die tiefe Furchen in die Lederplatte meines Schreibtisches rissen. Seine Augen glühten, und der Blick, mit dem mich die Bestie musterte, ließ mich schaudern.

Aber ich verzichtete darauf, das Tier anzugreifen. Es war nur eine einzelne Ratte, und trotz ihres beeindruckenden Äußeren stellte sie keine wirkliche Gefahr dar. Ich beschloß, mich nicht weiter um sie zu kümmern und zu tun, weshalb ich hergekommen war.

Die Ratte war in diesem Punkt anderer Meinung. Als ich an meinem Schreibtisch vorbeiging, stieß sie ein häßliches Pfeifen aus, sprang ansatzlos vor und versuchte nach meiner Kehle zu schnappen. Ich wich zur Seite, hob meinen Degen und spießte sie auf, als sie das zweite Mal angriff.

Meine Knie begannen zu zittern, als ich mich der Standuhr näherte, und es kostete mich meine gesamte Kraft, die Hand zu heben und nach dem Messingknauf zu greifen. Die drei kleinen Ziffernblätter, die unter und neben der großen Zeitanzeige angebracht waren, schienen mich wie höhnische Augen anzublinzeln. Das Metall des Knaufs fühlte sich eiskalt unter meinen Fingern an, und als ich die andere Hand hob und sie gegen die Tür legte, glaubte ich für Bruchteile von Sekunden eine sanfte, pulsierende Bewegung zu spüren, die das Holz erzittern ließ. Fast wie das Schlagen eines gewaltigen, großen Herzens ...

Hinter mir erklang ein Kratzen. Ich wandte den Kopf und gewahrte einen Schatten, der von außen an der Fensterscheibe scharrte. Kleine, glühende Knopfaugen starrten mich an. Dann kratzte etwas von außen an der verschlossenen Tür; beinahe gleichzeitig rieselten Staub und Ruß aus dem Kamin.

Ich hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Mit einem entschlossenen Ruck drehte ich den Knauf herum und öffnete die Tür.

Nichts hatte sich verändert. Wo das Gestänge der Uhr sein sollte, gähnte der Anfang eines schlauchförmigen, zuckenden und bebenden Ganges. Seine Wände waren rot und gelb und braun und glitzerten feucht, und ein Hauch schwüler, irgendwie organisch riechender Luft schlug mir entgegen.

Noch zögerte ich, mich dem magischen Tor anzuvertrauen. Ich hatte es schon einmal getan, und damals hatte ich wie heute keine andere Wahl gehabt, aber einen Unterschied gab es. Damals hatte das magische Transportsystem der GROSSEN ALTEN noch einwandfrei funktioniert.

Jetzt ... mein Magen begann zu rebellieren, als ich daran dachte, den Fuß auf diese widerlich weiche, lebendige Masse zu setzen. Vor meinem geistigen Auge erschien wie in einer blitzartigen Vision noch einmal das Bild der verkrüppelten Ratten, die diesen Stollen von der anderen Seite her betreten und auf so schreckliche Weise ums Leben gekommen waren. Aber das Kratzen und Schaben hinter mir wurde lauter. Irgendwo im Haus klirrte Glas, und fast bildete ich mir schon ein, das Trappeln zahlloser harter Pfoten zu hören ...

Nein - ich hatte keine andere Wahl. Die Ratten waren schon hier im Haus; und selbst wenn ich ihnen noch einmal entkommen sollte - der Angriff auf den Gefängniswagen hatte bewiesen, daß sie mich um jeden Preis daran hindern würden, St. Aimes zu erreichen.

Entschlossen packte ich den Stockdegen fester, griff noch einmal mit der linken Hand in die Tasche und fühlte nach dem Sternstein, wie, um mich davon zu überzeugen, daß er noch da war, und trat mit einem großen Schritt in die Uhr hinein ...

Zeit war bedeutungslos geworden. Ein Schritt war eine Ewigkeit, hundert Meilen ein Blinzeln. Es gab keine Richtungen, kein Oben, kein Unten, keinen real greifbaren Raum mehr. Der zuckende Schlund war verschwunden, im gleichen Moment, in dem sich die Tür hinter mir geschlossen hatte, und um mich herum war - nichts.