Kälte. Leere. Raum ohne wirkliche Weite, eine Welt, die zu beschreiben der menschlichen Sprache die Worte und dem menschlichen Geist die Sinne fehlten. Ein Kosmos des Wahnsinns, erfüllt von schrecklichen Dingen, weder zu beschreiben noch zu begreifen.
Äonenlang - wie es mir vorkam - stürzte ich durch ein finsteres, unendliches Nichts, einen Äther, in dem dann und wann bizarre schwarze Dinge aufzutauchen schienen, gewaltige pulsierende Leiber, die mit peitschenden Armen nach mir griffen, mich aus grundlosen Augen anstarrten oder auch teilnahmslos blieben, als sei ich nicht wichtig genug, um überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden.
Dann, nach einer Ewigkeit, tauchte ein stecknadelkopfgroßer, grellweißer Punkt irgendwo in der richtungslosen Unendlichkeit auf, wuchs rasend schnell heran, wurde zu einem Ball, schließlich zu einer grellodernden, blauweißen Sonne, deren flammender Atem mich zu versengen trachtete, meine Augen verbrannte, meinen Körper in einen Mantel von Flammen badete und wuchs und wuchs und wuchs und dann ...
stürzte ich aus mehreren Metern Höhe hart zu Boden und verlor das Bewußtsein.
Ich lag auf weichem Gras, als ich erwachte, aber genau zwischen meinen Schulterblättern war ein spitzer Stein, der unangenehm durch meine Kleidung hindurchdrückte, und jemand - oder etwas - fummelte ununterbrochen an meinem Gesicht herum. Hinter meiner Stirn führten Gedanken und scheinbar zusammenhanglose bizarre Bilder einen absurden Tanz auf. Es war nicht so, als wüßte ich nicht mehr, warum oder wie ich hierher gekommen war - wo immer dieses Hier sein mochte - aber es fiel mir seltsam schwer, all die Erinnerungen und Bilder, die plötzlich aus meinem Unterbewußtsein heraufdrängten, zu ordnen und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Irgendwie spürte ich, daß ich nur Bruchteile von Sekunden in jener fremden, feindseligen Welt gewesen war, die hinter dem Tor lauerte; aber es war eine Welt gewesen, die nicht Bestandteil des menschlichen Kosmos war, und mein Verstand hatte bereits begonnen, sich in den einzigen Ausweg zu flüchten, der ihm blieb: den Wahnsinn.
Wenige Sekunden länger, dachte ich schaudernd, und ich wäre wohl wirklich wahnsinnig geworden.
Ich begann zu begreifen, warum sich Howard bisher stets beharrlich geweigert hatte, mich in die Geheimnisse der Tore der GROSSEN ALTEN einzuweihen.
Wieder machte sich etwas an meiner Wange zu schaffen, und die Berührung war unangenehm wie die von Sandpapier. Ich blinzelte.
Es mußte eine Menge Zeit vergangen sein, seit ich das Bewußtsein verloren hatte, denn die Sonne neigte sich bereits dem Horizont entgegen. Ich lag so da, wie ich gestürzt war, und der Schmerz zwischen meinen Schulterblättern begann nun wirklich unangenehm zu werden. Ich setzte mich behutsam auf. Sofort wurde mir schwindelig. Ich sank nach vorne und blieb sekundenlang mit geschlossenen Augen sitzen, bis der Anfall vorüber war.
»Alles in Ordnung, Mister?« fragte eine Stimme neben mir.
Ich hob behutsam den Kopf und sah zur Seite.
Neben mir hockte ein unglaublich alter Mann. Er war dürr wie eine Bohnenstange, dabei aber sehr klein, hatte strähniges graues Haar und noch genau drei Zähne im Mund, was seiner Aussprache nicht gerade förderlich war. Sein Gesicht sah nicht nur aus wie ein ausgetretener alter Schuh, es roch auch so.
»Ich ... glaube schon«, antwortete ich zögernd. »Wo bin ich?«
Der Alte schien enttäuscht. Einen Moment lang starrte er mich an, als wäre ich der Weihnachtsmann, dann seufzte er und schüttelte so nachhaltig den Kopf, daß ich fast Angst hatte, er würde ihm von den dürren Schultern fallen. Sein Atem stank nach billigem Fusel und noch etwas, über das ich lieber nicht nachdachte.
»Er weiß es nicht«, sagte er. »Fällt vor Kilians Augen aus dem Nichts heraus und weiß nicht einmal, wer er ist.«
»Kilian?« wiederholte ich verständnislos. Ich sah mich um, aber wir waren allein. Dann begriff ich. »Das sind Sie?«
Der Mann mit dem zerknautschten Gesicht lachte meckernd. »Jaja«, sagte er. »Das ist er schon. Ob er wohl einen Sixpence für den alten Kilian hat, der junge Herr?«
Ich wollte ganz automatisch in die Tasche greifen, aber in diesem Moment begegnete ich dem Blick des Alten. Etwas darin war ... unangenehm, auf schwer in Worte zu fassende Weise. In seinen Augen loderte ein sonderbares Feuer, und ich spürte genau, daß er etwas sagen wollte, vielleicht auch auf eine ganz bestimmte Reaktion von mir wartete.
Hinter mir raschelte etwas. Ich schrak zusammen, fuhr herum - und griff instinktiv nach meiner Waffe, als ich den grauen Schatten zwischen den Büschen verschwinden sah.
»Eine Ratte!« entfuhr es mir. »Zum Teufel, gibt es denn nirgends einen Ort, an dem diese Biester nicht sind?«
»Die grauen Herren tun Ihnen nichts«, sagte Kilian, in einem Ton, als belehre er ein uneinsichtiges Kind. Ich drehte mich abrupt zu ihm herum und sah ihn scharf an. Erst dann begriff ich, daß er nicht das Wort Ratte benutzt hatte, sondern ...
»Wie haben Sie sie genannt?« fragte ich alarmiert.
»Die grauen Herren«, sagte Kilian ernst. »Hat mich hierher geführt, der graue Herr. Wollte wohl, daß der alte Kilian den Fremden findet und ihm alles zeigt. Aber ist keine gute Sache. Wäre besser, er hätte einen erfahrenen Mann geschickt, der graue Herr. Keinen dummen Jungen mit gefärbtem Haar.«
»Das war eine Ratte«, sagte ich heftig. »Und -«
Kilian unterbrach mich mit einer ärgerlichen Geste. »Ratten!« sagte er abfällig. »Ratten leben unter der Erde und fressen tote Dinger und Abfälle. Die anderen sind Ratten. Die unten in der Stadt. Und am Friedhof. Sollte nicht über Dinge reden, von denen er nichts versteht, der junge Geck.«
Ich schluckte, löste mit einer fast schuldbewußten Geste die Hand vom Griff des Stockdegens und sah mich noch einmal um. Aber die Ratte war verschwunden, und das leise Rascheln, das ich jetzt noch hörte, war nur das Geräusch des Windes, der im Gras spielte.
Für endlose Augenblicke kreisten meine Gedanken fast ziellos. Ich wußte nicht zu sagen, was ich erwartet hatte, als ich in das Tor trat - einen halb schwachsinnigen Alten, der unverständliches Zeug brabbelte, jedenfalls nicht. Aber es war auch bestimmt kein Zufall, daß das Tor ausgerechnet hier endete. Dann fiel mir etwas auf, was er gesagt und was ich im ersten Moment fast überhört hatte.
»Welche anderen haben Sie gemeint, Kilian?« fragte ich. »Auf welchem Friedhof?«
Kilian blinzelte mich aus seinen entzündeten roten Augen an.
»Muß schon ein großes Geheimnis sein, wenn die grauen Herren einen schicken, der nichts weiß«, sagte er.
Allmählich war mein Vorrat an Geduld erschöpft. »Zum Teufel, niemand hat mich geschickt«, sagte ich grob. »Ich bin -«
Hinter mir erscholl ein halblautes Quieken. Ich brach mitten im Satz ab und fuhr herum.
Die Ratte hockte zwischen den dornigen Ranken eines halbhohen Busches, der ihren Körper fast vollends verbarg. Sie saß ganz ruhig da und betrachtete mich aus ihren kleinen, von boshafter Intelligenz erfüllten Augen. Ich schluckte ein paarmal, trat unsicher auf der Stelle und wandte mich wieder an Kilian.
Der Alte grinste dämlich. »Da staunt er, der junge Geck«, kicherte er. »Ist nicht gut, die grauen Herren zu verspotten. Sind gekommen, um uns zu warnen. Er täte besser daran, auf sie zu hören, denn sie sind klug.«
Nervös fuhr ich mir mit der Zungenspitze über die Lippen, wobei mein Blick zwischen dem Alten und der fetten grauen Ratte hin und her irrte. Für einen Moment wußte ich nicht zu sagen, vor wem ich mehr Angst hatte.
»Warnen?« fragte ich schließlich. »Vor wem?«
Kilian antwortete auf seine gewohnte Art - mit einem dusseligen Kichern und einem Kopfnicken. »Vor den Dingen unter der Erde«, sagte er schließlich.