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»Dinge unter der Erde?« Ich wurde hellhörig. »Was meinen Sie damit? Was für Dinge?«

»Böse Dinge«, antwortete Kilian gewichtig. »Oh ja, sie wissen es, die grauen Herren. Es gibt schlimme Dinge unter der Erde. Dinge, die alt sind. Ist nicht gut für Menschen, sich damit abzugeben.« Er seufzte. »Aber sie tun es.«

»Wer?« hakte ich nach.

Diesmal zögerte Kilian. Einen Moment lang blickte er die Ratte hinter mir an, als bitte er sie um Erlaubnis, weiter sprechen zu dürfen, dann deutete er mit einer dürren Hand hinter sich.

»Die anderen«, sagte er. »Weiß nicht, ob es gut ist, den Jungen hinzubringen. Könnte zu Schaden kommen.«

»Vielleicht überlassen Sie das mir«, entgegnete ich gereizt.

Kilian grinste dämlich, drehte sich vollends herum und begann, den Hügel hinaufzuschlurfen. Trotz seiner gebrechlichen Erscheinung ging er dabei so rasch, daß ich mich beeilen mußte, ihn einzuholen, ehe er die Hügelkuppe überschritten hatte.

Ein kühler, feuchter Wind schlug uns entgegen, als wir den Hang erklommen hatten. Unter uns lag ein winziges Dorf. Ich blieb stehen, sah mich neugierig um. »Was ist das?« fragte ich.

»St. Aimes«, antwortete Kilian.

Seine Worte hätten mich nicht überraschen dürfen. St. Aimes - das war der Ort, auf dessen Friedhof Lady Audleys Nichte begraben lag. Der Kreis begann sich zu schließen.

Und trotzdem - während ich neben Kilian den Hang hinabging, hatte ich plötzlich das sichere Gefühl, bisher nur einen Zipfel des wahren Geheimnisses in Händen zu halten.

Der Ort bot einen bizarren Anblick. Die Straße war leer, bar jeder Bewegung und jeder Spur von Leben, aber irgend etwas Ungreifbares, körperlos Böses schien wie ein düsterer Hauch über dem Dorf zu hängen. Ich spürte, daß die Häuser, die die schmale kopfsteingepflasterte Straße säumten, leer waren.

»Was ist ... hier geschehen?« fragte ich stockend. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Das Gefühl körperlicher Bedrohung wurde stärker, mit jeder Sekunde. Es war, als balle sich das Unheil unsichtbar über uns zusammen, ein schreckliches Etwas, das weder zu sehen noch mit irgendeinem anderen menschlichen Sinn zu erkennen war, aber dieses ganze Land bedrohte. Vielleicht die ganze Welt.

»Sind alle fort«, antwortete Kilian mit einiger Verspätung auf meine Frage.

Die Sonne versank hinter dem Horizont, als wir St. Aimes erreichten. Kilian war immer wieder stehengeblieben und hatte sich umgesehen, als suche er etwas, und mehr als einmal hatte ich ein Rascheln und Wispern hinter mir im Gras gehört. Selbst jetzt spürte ich die Anwesenheit der Ratte. Sie war da, unsichtbar und lautlos, aber ich fühlte ihren Blick wie die Berührung unsichtbarer glühender Finger.

»Wird bald dunkel«, sagte Kilian wie im Selbstgespräch. »Ich denke, es ist Zeit für den alten Kilian, zu gehen.«

»Gehen?« Verwirrt starrte ich den Alten an. »Sie meinen -«

»Der alte Kilian hat ihn hergebracht, oder?« fragte er mit seiner schrillen Säuferstimme. »Wie es die grauen Herren befohlen haben. Jetzt geht er besser. Was geschieht, geht ihn nichts an. Ist besser, er ist nicht dabei, wenn sie tun, was getan werden soll.«

Ich verstand überhaupt nichts mehr, aber Kilian schien nicht geneigt, weitere Erklärungen abzugeben. Er wandte sich um, wackelte noch einmal mit dem Kopf und begann mit erstaunlicher Geschwindigkeit die Straße hinunter zu laufen. Wenige Augenblicke später war er verschwunden. Aber ich war trotzdem nicht allein, als ich mich wieder herumdrehte.

Vor mir saß eine Ratte.

Es war das Tier, das in Kilians Begleitung gekommen war, aber ich sah es jetzt zum ersten Male richtig. Der Anblick ließ mich erschauern. Das Tier war so groß wie ein Terrier, aber viel kräftiger, und seine Augen waren von wacher, sonderbar wissender Art. Sein Maul war leicht geöffnet, so daß ich die ehrfurchtgebietenden Schneidezähne des kleinen Ungeheuers sehen konnte, und seine Krallen scharrten unentwegt über das Kopfsteinpflaster der Straße. Aber es war nichts Drohendes in dieser Geste.

Geduldig wartete sie, bis ich mich in Bewegung gesetzt und sie fast erreicht hatte, dann drehte sie sich herum, trippelte ein paar Schritte vor mir her und blieb abermals stehen, um zu mir zurückzusehen. Es war diese Bewegung, die mich endgültig davon überzeugte, daß die riesige Ratte alles andere als ein geistloses Tier war.

Schaudernd schlug ich den Kragen meines viel zu dünnen Mantels hoch und begann langsam in die Richtung zu gehen, in der ich den Kirchturm der kleinen Kapelle von St. Aimes über den Dächern der Stadt erkannte. Dahinter mußte der Friedhof liegen.

Es wurde dunkel, bis mein gespenstischer Führer und ich den Friedhof erreichten.

Der Wind hatte aufgefrischt, und die Böen hatten - scheinbar zufällig - die Wolkendecke über dem Friedhof aufgerissen, so daß die bleiche Scheibe des Mondes sichtbar geworden war und ihr silbernes Licht wie der Strahl eines absonderlichen Scheinwerfers auf ein frisch aufgeworfenes Grab fiel.

Ich hatte den Anblick erwartet, aber er ließ mich trotzdem aufstöhnen. Dieses Grab war nicht das einzige, das aufgerissen worden war. Die Gräberreihen waren geschändet; die Gräber aufgebrochen, Särge mit roher Gewalt zertrümmert und die Toten aus ihrer ewigen Ruhe gerissen. Da und dort lag ein Teil eines Skeletts auf dem Weg, achtlos liegengelassen von den grauen Ungeheuern, die für dieses schreckliche Tun verantwortlich waren. Der Friedhof war menschenleer, aber keineswegs still. Das Schweigen des Gottesackers war dem Scharren und Kratzen ungezählter kleiner Pfoten gewichen. Überall auf dem Boden rings um das geöffnete Grab bewegten sich graubraune Körper, und mit dem Rascheln des Windes wehte ein leises, helles Wispern und Tuscheln heran.

Ich versuchte, die bange Furcht in meinem Innern und das rasende Hämmern meines Herzens zu ignorieren, sah mich einen Moment unentschlossen um und trat mit einer fast trotzigen Bewegung auf den schmalen Kiesweg, der zwischen den geschändeten Gräbern hindurchführte. An seinem Ende glühte ein unheimliches, hellgrünes Licht, das wie im Takt eines riesigen bösen Herzens zu pulsieren schien.

Dann hörte ich die Schritte.

Sie waren nicht sehr laut, und es waren die Schritte eines sehr leichten Menschen - oder jemandes, der sich mit großer Eleganz zu bewegen vermochte. Ich wußte, wer es war, noch bevor ich mich umdrehte und in das schmale, von dunklem Haar eingerahmte Gesicht des Mädchens blickte.

Sie war so schön wie das Bild, das ich in meinen Visionen von ihr gesehen hatte: schlank bis an die Grenzen der Zerbrechlichkeit, feingliedrig und elegant wie eine Statue aus Glas. Ihr Gesicht war wie das eines Engels.

Und so kalt wie Eis.

»Warum haben Sie meine Warnungen mißachtet, Robert?« fragte sie. »Warum sind Sie gekommen?«

»Warum?« Ich versuchte zu lachen, brachte aber nur einen krächzenden Laut zustande. »Warum haben Sie mich von ihren Bestien herlocken lassen, wenn Sie nicht wollen, daß ich komme? Spielen Sie keine Spielchen mit mir, Cindy - oder wer immer Sie sind.« Ein absurder Trotz machte sich in mir breit.

»Gerufen?« Das Mädchen mit Cindys Gesicht - irgend etwas sträubte sich in mir dagegen, sie auch nur in Gedanken Cindy zu nennen, denn ich spürte genau, daß ich alles andere als einen Menschen vor mit hatte - sah mich fragend an. »Niemand hat Sie gerufen, Robert. Im Gegenteil. Ich habe Ihnen mehr als eine Warnung zukommen lassen, sich aus dieser Angelegenheit herauszuhalten. Was haben Sie damit gemeint - gerufen?«

Verwirrt blickte ich erst sie, dann die quirlende Rattenarmee und dann wieder sie an. Eine dumpfe Ahnung stieg in mir empor, ohne daß ich das Gefühl zu diesem Zeitpunkt bereits in Gedanken fassen konnte. Für einen kurzen Augenblick glaubte ich noch einmal die Ratte zu sehen, die Kilian und mich hierher begleitet hatte.