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»Reden Sie!« sagte das Mädchen scharf. Ihr Engelsgesicht verdunkelte sich vor Zorn.

Ich tat das einzige, was mir übrigblieb - ich schwieg verstockt, und nach einer Weile gab die Fremde mit einem resignierendem Seufzer auf. »Wie Sie wollen, Robert«, sagte sie. »Es spielt auch keine Rolle mehr. Sie haben meine Warnung mißachtet und müssen die Folgen tragen.«

»Wollen Sie mich Ihren Bestien zum Fraß vorwerfen?« fragte ich trotzig.

Cindy blickte mich mit einem fast mitleidigen Blick an. »Sie sind so dumm, Robert«, sagte sie bedauernd. »So furchtbar dumm. Warum konnten Sie nicht einfach in London bleiben und -«

»Und Lady Audley ihrem Schicksal überlassen?« unterbrach ich sie. »Oder genauer gesagt - Ihrer Willkür?«

Seltsamerweise reagierte das Mädchen nicht zornig, wie ich halbwegs erwartet hatte, sondern im Gegenteil eher traurig. Sekundenlang blickte sie mich aus ihren großen Augen an, dann schüttelte sie den Kopf und deutete mit einer fast resignierenden Geste hinter sich. »Gehen Sie, Robert.«

Ich gehorchte. Flankiert von annähernd zweihundert Ratten ging ich los.

Der Weg war nicht sehr weit. Wir kamen an einer kleinen Kapelle vorbei, deren Tür offenstand - mir fiel auf, daß sich in ihrem Inneren nicht eine einzige Ratte aufhielt -, wichen dann vom eigentlichen Weg ab und überquerten den zerstörten Rasen. Erneut schien eine eisige Hand nach meinem Herzen zu greifen, als ich sah, wie entsetzlich die Rattenarmee hier gehaust hatte. Der Gottesacker war verwüstet wie nach einem Granatenhagel. Die meisten Grabsteine und -platten waren umgeworfen oder zerschlagen, zahllose Gräber geöffnet, die Särge darin zerborsten und mit brutaler Kraft aufgebrochen. Nur wenige Gräber waren noch unversehrt.

Cindy deutete stumm nach vorne, als ich abermals stehenblieb, und eine der Ratten, die mich eskortierten, unterstrich ihren Befehl mit einem warnenden Biß in meine rechte Wade. Ich unterdrückte den Impuls, nach dem Tier zu treten, und ging weiter.

Nach einer Weile wurde das grüne Leuchten stärker, verschluckte schließlich den Silberschein des Mondes und tauchte die geschändeten Gräber rechts und links des Weges in unheimliche, flackernde Helligkeit.

Schließlich sah ich, woher der fürchterliche Schein kam. Er drang aus einem frisch ausgehobenem Grab ganz am Ende des Friedhofes. An seinem jenseitigen Rand entdeckte ich Lady Audley, wie am Morgen bleich vor Schrecken und Angst, aber hoch aufgerichtet und unversehrt. Sie trug jetzt nicht mehr das tüllbesetzte Kleid, sondern ein grünes, mit absurden Mustern und Linien besticktes Gewand, auf dessen Brustteil der stilisierte Kopf einer Ratte abgebildet war. Rasch umrundete ich das Grab und streckte die Hand aus, berührte sie aber nicht, als sie mit einem hastigen Ruck den Kopf wegdrehte.

»Lady Audley!« sagte ich erschrocken. »Sie leben! Sind Sie gesund?«

Lady Audley starrte mich an. Ihre Lippen zitterten, und in ihren Augen glitzerten Tränen. Langsam, wie unter einem inneren Zwang, hob sie die Hand, berührte meine Wange und zog die Finger so rasch wieder zurück, als hätte sie sich verbrannt.

»Robert«, murmelte sie. »Sie ... Sie hätten nicht kommen sollen.«

»Es wird alles gut«, sagte ich. »Keine Sorge, Lady Audley. Ich ... ich bringe Sie hier raus; irgendwie.« Es war einer dieser blöden Sprüche, von denen man ganz genau weiß, wie unsinnig sie sind, aber diesmal verfehlte er seine Wirkung. Lady Audley schüttelte bloß den Kopf, berührte wieder meine Wange und lächelte traurig. Eine einzelne, glitzernde Träne lief über ihr Gesicht.

»Nichts wird gut, Robert«, sagte sie leise. »Ich werde sterben. Aber sie ... sie wird Ihnen nichts tun. Das hat sie mir versprochen.«

Eine Sekunde lang starrte ich sie an, dann fuhr ich mit einer wütenden Bewegung herum. »Was haben Sie mit ihr getan, Sie ... Sie Ungeheuer?« fragte ich wütend.

Das dunkelhaarige Mädchen blickte mich wieder mit dieser Mischung aus Trauer und Mitleid an. »Nichts, Robert«, sagte sie. »Nichts, was Sie verstehen oder akzeptieren würden. Sie ist aus freien Stücken hier.«

Verwirrt drehte ich mich wieder zu Lady Audley um.

Als ich in ihre Augen blickte, wußte ich, daß Cindy die Wahrheit gesagt hatte. Lady Audley stand nicht unter dem Einfluß eines fremden Geistes. Was sie sagte, entsprang ihrem freien Willen.

»Mein Gott«, flüsterte ich. »Was ... was geht hier vor?«

»Es ist alles in Ordnung, Robert«, wiederholte Lady Audley. »Was getan werden muß, wird ... wird geschehen.«

»Aber sie wird Sie umbringen!« sagte ich verzweifelt.

Lady Audley nickte. »Nicht umbringen, Robert. Opfern.«

Ich ächzte. »Aber Sie -«

»Versuchen Sie nicht, es zu verstehen, Robert«, fuhr Lady Audley mit leiser Stimme fort. »Es ist gut so, wie es kommt. So hat das Leben einer nutzlosen alten Frau schließlich doch noch einen Sinn bekommen. Es ist besser, ER nimmt mich, als Sie oder irgendeinen anderen Unschuldigen.«

»ER?«

Lady Audley sprach nicht weiter, sondern starrte aus glanzlosen Augen an mir vorbei ins Leere, und so drehte ich mich wieder zu dem Mädchen um und ballte in hilflosem Zorn die Fäuste.

»Warum tun Sie das?« fragte ich leise. »Warum müssen Sie diese alte Frau töten?«

»Sie besitzt die gleiche magische Kraft wie Sie, Robert. Wie dieser Körper, den ich trage, als er noch von eigenem Leben erfüllt war. Sie ahnt nichts davon und hat nie gelernt, die Kraft zu benutzen und zu fördern. Und doch wäre Sie Ihnen ebenbürtig, Robert.«

Unsicher sah ich Lady Audley an. »Es ist wahr, Robert«, flüsterte sie. »Sie hat mir alles erzählt. Auch über ... über Sie. Sie braucht einen Menschen wie mich oder Sie, um die Zeremonie zu vollziehen. Sie hätte Sie genommen, aber ich ... ich habe sie gebeten, Sie zu verschonen. Ich bin nur eine alte Frau, die ohnehin nicht mehr lange zu leben hat. Sie dagegen haben Ihr Leben noch vor sich.«

»Was haben Sie vor?« fragte ich an das Mädchen gewandt.

»Sie wissen es«, antwortete Cindy. »Es muß getan werden. Nur alle tausend Jahre stehen die Sterne in der richtigen Stellung. Shub-Niggurath wird erwachen, Robert Craven. Heute nacht, sobald der Mond am Himmel aufgegangen ist.« Sie deutete in das offene Grab.

Ich trat einen Schritt vor und blickte in die Grube. Was ich sah, ließ mich aufstöhnen.

Der Boden des Grabes war unter einem wogenden Meer grünlichen Lichtes verschwunden, Helligkeit, die wie leuchtendes Wasser einen unförmigen schwarzen Balg umströmte. Schwarze Tentakel, noch nicht ganz materialisiert, aber schon fast stofflich, bewegten sich wie träge Schlangen, und Augen voller abgrundtiefer Bosheit starrten zu mir herauf.

Shub-Niggurath. DAS TIER.

Die Bestie dort unten, das Ungeheuer, dessen Erwachen ich beiwohnen sollte, war nichts anderes als Shub-Niggurath, die schreckliche schwarze Ziege mit den tausend Jungen, wie sie in den Chaat Aquadingen genannt wurde. Ich hatte das Gefühl, innerlich zu Eis zu erstarrten. Zum allerersten Male stand ich einem der gefürchteten GROSSEN ALTEN bewußt gegenüber. Ich hatte das Gefühl, direkt in den Schlund der Hölle zu schauen.

»Sie dürfen das nicht tun«, flüsterte ich. »Bitte, Cindy - wer immer Sie sein mögen, tun Sie es nicht. Dieses Ungeheuer wird ... wird uns alle vernichten.«

Ihr Blick war voller Trauer, als sie auf der anderen Seite des Grabes Aufstellung nahm und mich ansah. »Es muß sein, Robert«, sagte sie bedauernd. »Gedulden Sie sich. Sie werden verstehen.«

»Was soll ich verstehen?« fragte ich bitter. »Daß Sie ein Ungeheuer erwecken wollen, das die ganze Welt vernichten kann?«

Sie antwortete nicht. Langsam hob sie den Arm und stieß ein Wort in einer dunklen, fremdartig klingenden Sprache aus. Nicht die Sprache der GROSSEN ALTEN, aber eine andere, beinahe ebenso fremd.

Ein scharrender Laut hinter mir ließ mich aufsehen. Langsam näherte sich ein halbes Dutzend Ratten dem Grab. Ich sah, daß sie einen dunklen Gegenstand zwischen sich schleiften, und als sie näherkamen, erkannte ich auch, was es war: eine Leiche. Ein Toter, den sie aus einem der aufgebrochenen Gräber genommen und aus seiner ewigen Ruhe gerissen hatten. Cindy trat beiseite und machte eine befehlende Geste, und die riesigen Tiere krochen ganz an das Grab heran und schoben den Toten hinein.