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Wie von Furien gehetzt rannten wir los. Die Ratten waren noch immer in Panik; aus der disziplinierten Armee kleiner Ungeheuer war ein kopflos durcheinanderrennender Haufen geworden, aber dieser Zustand würde nicht allzulange anhalten. Der Sternstein hatte den Dämon nicht vernichtet, sondern nur geschwächt. Uns blieben bestenfalls Minuten.

Als wäre dieser Gedanke ein Auslöser gewesen, begannen sich einige der tobenden Tiere bereits wieder zu beruhigen. Ich konnte regelrecht sehen, wie irgend etwas Unsichtbares, ungeheuer Mächtiges nach ihrem Willen griff und ihn brach.

Meine Gedanken überschlugen sich, während ich über den verwüsteten Friedhof hetzte, Lady Audley wie ein Kind an der Hand hinter mir herzerrend. Selbst wenn es uns gelingen sollte, den Friedhof zu verlassen - die Ratten würden uns einholen, lange, ehe wir weit genug entfernt waren, um in Sicherheit zu sein. Fall es so etwas wie Sicherheit vor diesen Bestien überhaupt gab.

Eine verzweifelte Idee machte sich in mir breit. Es war nicht einmal eine Chance, sondern allerhöchstens die Idee einer Chance, aber wir hatten keine Wahl. Vielleicht -

Ich dachte den Gedanken nicht einmal zu Ende, sondern änderte mitten im Schritt die Richtung und zerrte Lady Audley hinter mir her, auf die offenstehende Tür der kleinen Kapelle zu.

Es waren nur wenige Dutzend Schritte, und sie wurden zu einem Wettlauf mit dem Tod.

Aber wir gewannen ihn.

Mit einem letzten, verzweifelten Satz warf ich mich ins Innere der kleinen Kapelle, zerrte Lady Audley hinter mir her und warf in der gleichen Bewegung die Tür zu.

Eine Sekunde später erzitterte sie unter dem Aufprall eines Dutzends kleiner, pelziger Körper.

Aber sie hielt.

Von draußen erscholl ein wütendes Pfeifen und Zischeln, und plötzlich hörte ich das Scharren harter horniger Krallen an der Tür. Etwas prallte gegen das Fenster, aber das bunte Bleiglas hielt dem Ansturm ebenso stand wie die Tür. Lady Audley schrie auf, schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht und wich bis zum Altar vor der rückwärtigen Wand zurück, und im gleichen Moment erbebte die Tür ein zweites Mal wie’ unter einem Faustschlag.

Und dann war es vorbei.

Von einer Sekunde zur nächsten hörte der Angriff auf. Selbst durch das dicke Holz der Tür hindurch konnte ich das Scharren zahlloser Pfoten hören, die sich hastig zurückzogen.

Trotzdem blieb ich noch für länger als eine Minute fast reglos stehen, die Schulter gegen die Tür gestemmt und auf einen neuen, wütenden Ansturm gefaßt, ehe ich es wagte, meiner Platz zu verlassen und mit klopfendem Herzen ans Fenster zu treten.

Es war nicht viel, was ich durch das gefärbte Bleiglas hindurch erkennen konnte, aber das wenige, was ich sah, jagte mir einen eisigen Schauer über den Rücken.

Im bleichen Schein des Mondes gewahrte ich eine Armee aus Zigtausenden von Ratten, die den Boden wie ein lebender Teppich bedeckten. Genug, um durch ihre schiere Anzahl die Tür einfach einzudrücken, vielleicht sogar die Mauern.

Aber sie taten es nicht. Es war, als hielte eine unsichtbare Macht sie zurück.

Lady Audley trat neben mich, noch immer zitternd vor Angst und totenbleich, aber trotzdem wenigstens halbwegs gefaßt. Ich mußte den Mut dieser alten Frau bewundern. Jede andere an ihrer Stelle wäre vermutlich hysterisch geworden.

Ihre Augen wurden groß, als sie aus dem Fenster sah. »Was ... ist das, Robert?« flüsterte sie entsetzt. »Warum ... warum greifen sie nicht an?«

Ich antwortete nicht gleich, sondern hielt nach Cindy oder der riesigen Albinoratte Ausschau, konnte sie aber nicht entdecken. Schließlich trat ich einen halben Schritt vom Fenster zurück und sah mich in der kleinen Kapelle um. Der Innenraum maß kaum zehn auf fünf Schritte, und es gab nur zwei schmale Bänke und einen kleinen, hölzernen Altar, auf dem ein ewiges Licht brannte.

»Ich weiß es nicht«, gestand ich. »Vielleicht ... vielleicht ist es der heilige Boden, den sie nicht betreten können. Aber ich glaube, daß wir sicher sind, solange wir die Kapelle nicht verlassen.«

Ich spürte, daß ich der Wahrheit damit wohl sehr nahe kam. Vielleicht war es wirklich das Kreuz über dem Altar, vielleicht auch irgend etwas, das wir niemals begreifen würden - aber ich wußte einfach, daß wir in Sicherheit waren, solange wir hier drinnen blieben.

»Und ... was tun wir jetzt?« fragte Lady Audley nach einer weiteren Weile.

»Warten«, antwortete ich. »Früher oder später wird irgend jemand kommen und uns hier herausholen.«

Lady Audley sagte nichts darauf, aber ich spürte wie sie, wie dünn diese Worte klangen; ein schwacher Versuch, sie und mich selbst zu belügen, um uns Mut zu machen.

Und sehr viel mehr waren sie wohl auch nicht.

»Die Sonne geht auf.« Lady Audleys Worte, so leise sie gesprochen waren, rissen mich mit fast schmerzhafter Plötzlichkeit aus dem Zustand zwischen Betäubung und Schock, in dem ich die vergangenen Stunden verbracht hatte.

Ich fühlte mich zerschlagen und müde, so, wie man sich eben fühlt, wenn man die zweite Nacht ohne ausreichenden Schlaf hinter sich hat. Mein Rücken schmerzte von der harten Bank, auf der ich mich ausgestreckt hatte, um wenigstens ein bißchen auszuruhen, und ich spürte all die zahllosen kleinen Bisse und Kratzer, die mir die Ratten zugefügt hatten.

Müde trat ich neben Lady Audley an das schmale Fenster der Kapelle und sah mit brennenden Augen hinaus. Der Horizont begann sich aufzuhellen. Graue Fasern hatten sich in das samtene Schwarz der Nacht gewoben, und weit draußen über der Stadt zeigte sich ein erster dünner Streifen roter Helligkeit.

Fast kam es mir wie eine grausame Ironie des Schicksals vor, daß ausgerechnet dieser Morgen seit langer Zeit wieder schön zu werden versprach.

Es konnte nämlich gut sein, daß es der letzte Morgen war, den dieses Land erlebte.

Vielleicht sogar der letzte der Welt.

Meine Gedanken mußten deutlich auf meinem Gesicht zu lesen sein, denn Lady Audley berührte mich mit einer Hand an der Wange und lächelte. Ganz im Gegensatz zu sonst war mir ihre mütterliche Art nicht peinlich, nicht einmal lästig. Im Gegenteil. Ich war fast dankbar dafür.

»Lassen Sie den Kopf nicht hängen, mein Junge«, sagte sie sanft. »Das nutzt keinem, Ihnen am allerwenigsten.«

Ich erwiderte ihr Lächeln, wenn ich auch das Gefühl hatte, daß eher eine Grimasse daraus wurde, schob ihre Hand sanft beiseite und legte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Die Kälte des Glases tat wohl. Meine Haut fühlte sich fiebrig an und schien überall gerissen zu sein.

»Ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen, Lady Audley«, sagte ich. »Aber es ist nicht gerade leicht zu verdauen, wenn man -«

»Einen Fehler gemacht hat?« unterbrach sie mich. Ich wollte antworten, aber sie schüttelte den Kopf. »Sie haben keinen Fehler gemacht. Von ihrem Standpunkt aus haben Sie richtig gehandelt. Sie konnten nicht wissen, mit wem Sie es wirklich zu tun haben.«

»Ich hätte es wissen müssen«, widersprach ich, aber wieder schüttelte Lady Audley nur den Kopf.

»Cindy hat mir -«

»Das war nicht Cindy«, unterbrach ich sie; ein gutes Stück heftiger, als vielleicht angebracht gewesen wäre. Der grobe Tonfall tat mir fast sofort wieder leid, denn ich sah, daß sie ein bißchen verletzt war. Trotzdem fügte ich - wenn auch sehr viel sanfter - hinzu: »Dieses Ding ist nicht Cindy, Mylady. Es ... sieht nur so aus.«

»Ich weiß«, antwortete Lady Audley. Sonderbarerweise lächelte sie. »Und trotzdem ist sie es, Robert, glauben Sie mir. Etwas von ihr ist ...« Sie stockte, rang einen Moment nach Worten. »Etwas von ihr lebt immer noch«, sagte sie schließlich. »Dieses Ungeheuer hat sich ihres Körpers bemächtigt, aber es hat auch etwas von der wirklichen Cindy aufgeweckt. Dieses ... Ding, wie Sie es nennen, hat mir alles erzählt. Es war kein Zufall, daß Cindy sein Opfer wurde. Sie war ...« Wieder stockte sie, und wieder bedachte sie mich mit einem langen, beinahe mütterlichen Blick, der mir fast peinlich war. »... ein bißchen wie Sie, Robert«, sagte sie schließlich. »Es brauchte jemanden mit großer magischer Macht.«