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Bevor ich etwas sagen konnte, schüttelte Lady Audley den Kopf. »Leugnen Sie es nicht. Sie hat mir alles über Sie erzählt. Über Sie und Ihren Vater und Ihren Freund Howard.« Sie lächelte. »Sie müssen sich köstlich über mich amüsiert haben, als ich versuchte, Sie davon zu überzeugen, daß es so etwas wie übersinnliche Phänomene wirklich gibt. Ich hoffe, Sie sehen einer alten Frau ihre Unwissenheit nach.« Sie lächelte erneut und wurde übergangslos wieder ernst. »Sie hätten nicht hierher kommen dürfen. Aber das war auch Ihr einziger Fehler. Dieses Ungeheuer ist nun einmal erwacht, und keine Macht der Welt kann es ungeschehen machen.«

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit - der Dämon war nicht vernichtet, dazu reichte nicht einmal die Macht des Sternsteines, aber ich hatte sein Erwachen zumindest teilweise verhindert. Er existierte noch, aber er war jetzt gefangen im Körper der riesigen Albinoratte. Trotzdem war es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis er endgültig zu neuem, schrecklichem Leben auferstehen würde.

Und doch ... da war etwas, was ich gewußt und sofort wieder vergessen hatte; ein Teil, der nicht in das schreckliche Puzzlespiel paßte. Und der wichtig war.

Die Ratten ...

Der Gedanke war wieder da, aber es gelang mir nicht, ihn zu fassen; es war, als verhindere eine unsichtbare Macht, daß die Erkenntnis völlig an mein Bewußtsein drang. Etwas ... stimmte mit den Ratten nicht.

Ich zwang mich, die schreckliche Szene vom vergangenen Abend noch einmal zu durchleben. Da war dieses einzelne Tier gewesen, das in Kilians Begleitung gekommen war. Warum hatten die anderen es getötet?

Ich dachte eine Weile über diese Frage nach, ohne auch nur den Schatten einer Erklärung zu finden, seufzte tief und trat ans Fenster.

Es wurde jetzt rasch hell. Der Friedhof lag still und in täuschendem Frieden da, eine verwüstete Kraterlandschaft, deren Anblick mich noch immer schaudern ließ, und es waren nur noch wenige Ratten zu sehen. Trotzdem wußte ich mit absoluter Sicherheit, daß sie noch da waren. Sie warteten auf uns, irgendwo.

»Irgend etwas stimmt nicht«, sagte Lady Audley plötzlich.

Alarmiert drehte ich mich zu ihr herum. Sie stand reglos da, den Kopf ein wenig auf die Seite gelegt und die Augen halb geschlossen, als lausche sie. Ein angespannter Ausdruck lag auf ihren Zügen.

»Womit?« fragte ich.

Sie sah mich an, überlegte einen Moment und schüttelte dann hilflos den Kopf. »Ich ... weiß es nicht«, sagte sie. »Irgend etwas mit diesem Ort. Ich weiß nicht, was, aber ich fühle, daß irgend eine Veränderung vor sich geht. Und es ist keine Veränderung zum Guten.« Sie lächelte verlegen, fast als käme sie sich bei diesen Worten selbst ein bißchen albern vor, aber ich spürte, wie ernst sie es meinte. Ich mußte wieder an Cindys Worte denken, die behauptet hatte, Audley McPhearson gebiete über die gleichen magischen Kräfte wie ich.

»Es ist nicht wie -«

Ich hörte nicht, was sie weiter sagte, denn in diesem Moment gewahrte ich eine Bewegung draußen vor dem Fenster. Im allerersten Moment dachte ich, es wären die Ratten, die zurückgekommen waren, aber als ich das Gesicht gegen die Scheibe preßte und aufmerksamer hinaussah, erkannte ich meinen Irrtum.

Es waren Menschen; genauer gesagt, die Umrisse dreier Männer, die sich langsam der Kapelle näherten, wobei sie immer wieder stehenblieben, um sich fassungslos umzusehen. Sie waren zu weit entfernt, als daß ich ihre Stimme hören konnte, aber die Gesten, die ihre Unterhaltung begleiteten, waren eindeutig genug.

Dann erkannte ich sie; nicht zuletzt, weil einer unter ihnen war, der die beiden anderen um mehr als Haupteslänge überragte. Es waren niemand anderes als Rowlf und Howard. Und der dritte Mann war Captain Wilbur Cohen.

Aber meine Erleichterung währte nur den Bruchteil einer Sekunde, denn noch während ich dazu ansetzte, Lady Audley meine Beobachtung mitzuteilen, sah ich noch etwas. Etwas, das meine kaum neu aufgelebte Hoffnung mit einem einzigen Schlag wieder zunichte machte.

Auf dem Friedhof wurden die Schatten lebendig. Aus dem Gebüsch, aus aufgeworfenen Gräbern, aus der Erde und dem Strauchwerk krochen Ratten. Hunderte von grauen, großen Ratten, die die drei Männer einzukreisen begannen, ohne daß sie es überhaupt zu bemerken schienen.

»Um Gottes willen;« rief ich. »Howard!«

Mit einem einzigen Satz sprang ich zur Tür, riß sie auf - und sah mich einer fetten grauen Ratte gegenüber, die wie ein schrecklicher Wächter davor Aufstellung genommen hatte und mich anfletschte wie ein mißgestalteter Bluthund. Ich trat nach ihr, und es war wohl die Angst um Howard, die mir zusätzliche Kraft gab - mein Fuß traf das häßliche Tier und schleuderte es meterweit davon; gleichzeitig schrie ich Howard und Rowlf aus Leibeskräften eine Warnung zu, nicht näher zu kommen.

Ich erreichte das Gegenteil dessen, was ich gewollt hatte: Howard und Cohen sahen mich gleichzeitig, aber während Cohen für einen Moment erschrocken stehenblieb, rief Howard meinen Namen und begann mit weit ausgreifenden Schritten auf mich zuzurennen!

»Um Gottes willen!« schrie ich mit überschnappender Stimme. »Bleibt stehen!«

Vermutlich war es weniger meine Warnung als vielmehr die Armee pelziger grauer Schatten, die plötzlich vor Howard und den beiden anderen auftauchte, die ihn tatsächlich veranlaßte, mitten im Schritt zurückzuprallen. Mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken: die Ratte, die ich getreten hatte, kam zurück, und sie wurde von einem ganzen Dutzend ihrer Rassegenossinnen begleitet!

Mit einem verzweifelten Satz sprang ich in die Sicherheit der Kapelle zurück und warf die Tür ins Schloß. Das Geräusch, mit dem die heranrasenden Ratten dagegenprallten, hörte sich an wie das Schlagen großer, widerwärtig weicher Fäuste.

Draußen krachte ein Schuß, und dann hörte ich Cohen schreien. Ich hetzte zum Fenster und sah, wie der Polizeicaptain ein zweites Mal seine großkalibrige Waffe abfeuerte, ohne die heranwogende Rattenarmee damit auch nur im geringsten beeindrucken zu können.

»O Gott;« stöhnte Lady Audley hinter mir. »Sie werden sie umbringen, Robert! Wir müssen etwas tun!«

Ich kam nicht mehr dazu, zu antworten. Ein dumpfes, stöhnendes Knirschen lief durch den Boden. Die ganze Kapelle bebte. Die Fensterscheibe zerbarst klirrend, Staub, Kalk und Holz regneten von der Decke, dann erzitterte das ganze Gebäude wie unter einem Hammerschlag, und die Erschütterung riß uns beide von den Füßen.

Eine halbe Sekunde lang blieb ich benommen liegen, während das Haus und der Boden einen irrsinnigen Tanz um mich herum aufzuführen schienen. Irgendwo erklang ein Knirschen und Poltern, dann ertönte ein Laut, als zerrisse über unseren Köpfen ein gigantisches, straff gespanntes Tuch, und etwas traf mich mit furchtbarer Wucht an der Schulter.

Der Schmerz riß mich in die Wirklichkeit zurück. Es regnete Steine und geborstene Balken, und die Luft war so voller Staub, daß ich kaum noch zu atmen vermochte.

Ich begriff, daß die Kapelle über unseren Köpfen zusammenbrach, stemmte mich mit verzweifelter Kraft hoch und stolperte in die Richtung, in der hinter den tanzenden Schwaden die Tür liegen mußte. Irgendwo hinter mir schrie Lady Audley. Ich blieb stehen, sah sie mit schreckverzerrtem Gesicht auf mich zu taumeln, ergriff ihr Handgelenk und zerrte sie heraus aus der Kapelle.