Keine Sekunde zu früh. Ein dritter Schlag traf das kleine Gebäude und ließ es in den Grundfesten erbeben. Das Fenster und ein Teil des Daches zerbarsten, als wäre drinnen eine Bombe explodiert, und plötzlich neigte sich das ganze Gebäude zur Seite, erzitterte wie ein waidwundes Tier - und brach wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Lady Audley und ich brachten uns mit einem verzweifelten Satz in Sicherheit, als Balken und Steintrümmer wie tödlicher Hagel dort niederprasselten, wo wir gerade noch gestanden hatten. Eine gewaltige, graue Staubwolke quoll hoch und nahm uns die Sicht.
Aber es war noch nicht vorbei. Im Gegenteil. Was immer es war - es begann gerade erst.
Ein mahlendes Geräusch überlagerte das Krachen und Poltern der zusammenstürzenden Kapelle, und plötzlich bäumte sich der ganze Weg auf, sackte mit einem ächzenden Laut zurück und begann zu zittern.
Lady Audley schrie auf. Ihre Fingernägel gruben sich tief in meine Haut, und ihre andere Hand deutete auf einen Punkt am entgegengesetzten Ende der Straße. Ihr Gesicht war eine Maske des Grauens.
Am anderen Ende des Weges, nur wenige Dutzend Schritte entfernt, wölbte sich der Boden empor. Das Erdreich zerbarst, als schlüge eine unsichtbare Gigantenfaust von unten dagegen. Steine, Erdreich und Felstrümmer flogen wie tödliche Geschosse durch die Luft. Der Weg zerbrach. Ein meterbreiter Spalt entstand, raste in irrsinnig schnellem Zickzack auf uns zu und wurde dabei breiter und breiter. Irgendwo hinter uns krachte Cohens Pistole zweimal kurz hintereinander.
Verzweifelt warf ich mich herum, zerrte Lady Audley mit mir und versuchte, dem heranrasenden Riß zu entgehen, stolperte, schlug der Länge nach hin und hörte Lady Audley abermals und noch gellender aufschreien. Weniger als einen halben Yard neben mir brach der Boden auseinander, und da, wo vor Sekundenbruchteilen noch massive Erde gewesen war, klaffte plötzlich ein bodenloser Schlund.
Ein Schlund, in dem es grau und häßlich wimmelte, und in den Lady Audley langsam, aber mit unbarmherziger Beharrlichkeit abzurutschen begann!
Ihre Hände griffen verzweifelt ins Leere, fuhren mit einem furchtbaren Scharren über Stein und loses Erdreich und rutschten Zentimeter für Zentimeter ab.
Ich warf mich zur Seite und griff nach ihren Armen. Meine Finger glitten ab, rissen blutige Kratzer in ihre Haut und krampften sich mit verzweifelter Kraft um ihre Handgelenke; eine Sekunde, bevor sie vollends den Halt verlor und mit einem letzten, gellenden Schrei nach hinten kippte.
Lady Audley begann wie von Sinnen mit den Beinen zu strampeln. Unter ihr zuckte und bebte der Riß wie ein gigantisches, steinernes Maul. Mein Oberkörper hing schon zur Hälfte über dem Abgrund, und Lady Audleys Gewicht zerrte wie ein Felsen an meinen Armen. Ich würde den Druck nur noch Sekunden aushalten.
»Hören Sie auf zu strampeln!« brüllte ich verzweifelt. »Ich ziehe Sie rauf!«
Zu meiner eigenen Überraschung reagierte sie auf meine Worte und hörte tatsächlich auf, sich hin und her zu werfen. Ihr Fuß fand sogar Halt an einem vorstehenden Felsbrocken, und für eine Sekunde verschwand der entsetzliche Zug wenigstens teilweise aus meinen Armen.
Ich hakte meinen Fuß irgendwo fest und begann, mit aller Kraft zu zerren. Lady Audleys Körper schien Tonnen zu wiegen, und einen Moment lang rechnete ich ernsthaft damit, daß mir schlichtweg die Hände aus den Gelenken reißen würden, aber dann spürte ich, wie sie Zentimeter für Zentimeter nach oben glitt, wobei sie selbst mit den Füßen nachhalf und sich abstützte, so gut sie konnte. Trotz des Ernstes unserer Lage mußte ich die Kaltblütigkeit bewundern, die diese alte Frau an den Tag legte.
»Weiter so!« keuchte ich. »Wir schaffen es! Sie sind gleich raus!«
Bis zu diesem Augenblick habe ich nie an böse Omen geglaubt. Aber von da an tat ich es.
Denn genau in dem Moment, in dem ich die Worte aussprach, brach der Boden entlang einer gezackten, halbkreisförmigen Linie rings um mich herum auseinander, und Lady Audley und ich stürzten zusammen mit etlichen Tonnen Erdreich in die Tiefe.
Den Aufprall spürte ich schon nicht mehr. Ich verlor zum zweiten Mal innerhalb von zwölf Stunden das Bewußtsein.
Diesmal waren nur Augenblicke vergangen, als ich wieder erwachte; Sekunden, bestenfalls wenige Minuten. Ich fühlte einen heftigen Schmerz an der Schläfe und Blut, das aus einer tiefen Platzwunde über mein Gesicht lief, und einen etwas weniger heftigen, aber irgendwie lähmenden Schmerz in der Hüfte. In das dumpfe Rauschen des Blutes in meinen Ohren mischten sich Stimmen. Einen Augenblick später berührte eine Hand mein Gesicht, und ich öffnete die Augen.
Howard beugte sich über mich. Er sah reichlich mitgenommen aus - seine Kleider waren zerfetzt, und in seinem Gesicht und seinen Händen gewahrte ich eine Anzahl kleiner, aber sehr häßlicher Bißwunden. Trotzdem leuchteten seine Augen erleichtert auf, als er sah, daß ich bei Bewußtsein und offenbar nicht ernsthaft verletzt war.
»Alles in Ordnung?« fragte er.
Ich nickte ganz automatisch, schüttelte dann den Kopf und versuchte mich hochzustemmen. Meine geprellte Hüfte machte ein Abenteuer aus dieser Bewegung, aber ich biß die Zähne zusammen und kämpfte mich in die Höhe. Für einen Moment wurde mir schwindelig. Der Friedhof begann sich um mich herum zu drehen.
»Großer Gott!« flüsterte eine Stimme neben mir. »Was ... was ist hier geschehen?!«
Mühsam drehte ich mich zu Cohen um. Und schon der erste Blick in sein Gesicht ließ mich allen Triumph und jede böse Antwort, die mir auf der Zunge gelegen hatte, vergessen.
Ich hatte niemals zuvor im Leben einen Menschen gesehen, der erschütterter war als Cohen in diesem Moment. Sein Gesicht war nicht nur bleich, es war weiß, und seine Augen waren so weit aufgerissen, daß ich einen Moment fast ernsthaft Angst hatte, sie würden aus den Höhlen quellen.
Statt irgend etwas zu sagen, wandte ich mich wieder ab und blickte auf die Überreste der Kapelle.
Das Gebäude war nicht nur zerstört - es war verschwunden. Wo es gestanden hatte, gähnte ein gewaltiger Krater im Boden, aus dem zerborstene Balken und Trümmerstücke ragten. Staub hing wie grauer Nebel über der Ruine, und tief unter unseren Füßen krachte und rumpelte es noch immer. Überall zwischen den Trümmern lagen tote oder sterbende Ratten.
Die Ratten hatten die Kapelle nicht betreten können, aber sie hatten etwas anderes getan, während der Nacht, in der Lady Audley und ich uns so sicher gefühlt hatten: sie hatten den Boden unter der Kapelle unterwühlt, zu Tausenden und Abertausenden eine Höhle geschaffen, die groß genug war, das ganze Gebäude wie ein Kartenhaus zusammenstürzen zu lassen. Ich versuchte, mir die Zahl der Ratten vorzustellen, die in der Lage waren, einen zwanzig Yard tiefen Riß in die Erde zu graben. Es gelang mir nicht. Vielleicht war es gut so.
»Wo ist Lady Audley?« fragte ich leise, obgleich ich die Antwort zu wissen glaubte.
Howard deutete auf den klaffenden Riß im Boden, aus dem er und Rowlf mich herausgezogen hatten. »Fort«, sagte er tonlos. »Sie haben sie weggeschleift.«
Ich fühlte nicht einmal Überraschung. Irgendwie hatte ich damit gerechnet - es war das einzige, was Sinn machte. Die Ratten waren nicht gekommen, um Lady Audley zu töten. Sie brauchten sie. Die Zeremonie war unterbrochen worden, aber sie würden sie zu Ende führen.
»Aber ... aber wieso?« stammelte Cohen. Von seiner Überheblichkeit und seiner aggressiven Art war nichts mehr geblieben. Selbst seine Stimme klang anders, als ich sie in Erinnerung hatte. Jedes bißchen Kraft schien aus dem Mann gewichen zu sein.
Ich sah ihn an, wollte etwas sagen und schüttelte dann nur stumm den Kopf. Wie konnte ich ihm etwas erklären, was ich selbst nicht wirklich verstand?
»Wieso haben sie uns nicht angegriffen?« murmelte Howard. Er sah mich fast hilfesuchend an. »Was ist hier passiert, Robert? Sie sind alle verschwunden, nachdem -« Er zögerte einen Moment, dann deutete er auf die Ruine der Kapelle, »das da passiert ist.«