»Ich muß mit dir reden, Stan«, sagte Cohen.
»Verschwinde!« schnappte Stanislas. »Ich sage es dir nicht zweimal, Wilbur. Geh und nimm die drei Galgenvögel mit, solange ihr noch in der Lage seid, auf euren eigenen Füßen das Haus zu verlassen.« Zornig ballte er die Fäuste und begann, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herunterzulaufen.
»Stan«, sagte Cohen verzweifelt. »Hör mir nur eine Minute zu. Es ist -«
»Du sollst verschwinden!« brüllte sein Bruder. »Ich habe dir verboten, dieses Haus jemals wieder zu betreten!« Er brüllte vor Wut, erreichte das Ende der Treppe und rannte mit kampflustig erhobenen Fäusten auf seinen Bruder zu.
Rowlf stellte ihm ein Bein.
Stanislas keuchte, landete nach einem grotesk aussehenden Hüpfer der Länge nach auf den Fliesen und kam mit einem fast hysterischen Brüllen wieder auf die Füße. Seine gewaltige Faust wirbelte durch die Luft und schlug nach Rowlfs Gesicht.
Rowlf tauchte unter dem Hieb hindurch, steppte mit einer behenden Bewegung an ihm vorbei und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Gleichzeitig legte sich seine linke Hand in Stans Nacken und drückte mit aller Macht zu.
»Bisse jetzt venünftich, oder mußichers grob wern?« fragte er.
Stanislas brüllte vor Zorn, bäumte sich in Rowlfs Griff auf und griff mit der freien Hand nach hinten. Rowlf seufzte, schüttelte den Kopf und trat ihm wuchtig in die Kniekehlen. Stanislas fiel vor ihm auf die Knie und gab endlich seinen Widerstand auf.
»Rowlf!« sagte Howard scharf. »Laß ihn los.«
»Warten Sie noch!« sagte Cohen hastig. Rowlf runzelte die Stirn, hielt Cohens Bruder aber vorsichtshalber weiter fest und lockerte nur seinen Griff ein wenig.
Cohen trat auf seinen Bruder zu und sah ihm einen Herzschlag lang ernst in die Augen. »Ich bitte dich, Stan«, sagte er eindringlich. »Hör uns fünf Minuten lang zu. Danach gehe ich - wenn du das wirklich noch willst.«
Cohen II keuchte. »Verschwindet!« würgte er hervor. »Noch einmal kriegt ihr mich nicht. Und wenn ich mich selbst umbringen muß.«
Cohen wollte antworten, aber Howard trat mit einem raschen Schritt zwischen ihn und seinen knienden Bruder, brachte Cohen mit einem Blick zum Verstummen und wandte sich an Stanislas.
»Ich fürchte, Sir, hier liegt ein Irrtum vor«, begann er umständlich. »Ich weiß nicht, was zwischen Ihrem Bruder und Ihnen vorgefallen ist, aber ich gebe Ihnen mein Wort, daß wir nichts damit zu tun haben.«
Cohen II starrte ihn an, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Das ist ein Trick«, keuchte er. »Ich glaube Ihnen nicht - wer immer Sie sein mögen.«
Howard seufzte und hob die Hand. »Laß ihn los, Rowlf«, sagte er.
Rowlf zögerte einen Moment, ließ dann aber gehorsam Stans Arm und Nacken los und trat zurück, blieb jedoch in angespannter, sprungbereiter Haltung.
Stanislas Cohen erhob sich umständlich, griff sich mit der Linken in den Nacken und blickte abwechselnd von Howard zu seinem Bruder und wieder zurück. In seinem Gesicht arbeitete es.
»Fünf Minuten«, sagte er schließlich. »Und keine Sekunde länger.«
Howard atmete erleichtert auf. »Ich fürchte, es wird länger dauern, Ihnen alles zu erklären«, begann er. »Aber vielleicht reicht die Zeit, Sie davon zu überzeugen, daß wir wirklich nicht Ihre Feinde sind, Mister Cohen. Im Gegenteil.«
Das Mißtrauen in Stanislas’ Blick flammte zu neuer Glut auf. »Was soll das heißen?« fragte er lauernd.
»Das soll heißen, daß wir deine Hilfe brauchen, Stan«, sagte Cohen.
Sein Bruder lachte, aber es klang nicht sehr amüsiert. »Meine Hilfe?« fragte er. »Wobei? Willst du mich wieder ins Irrenhaus bringen, oder hast du dir etwas Neues einfallen lassen?«
Cohen schluckte, verzichtete aber auf eine Antwort, und nach einer kleinen Ewigkeit wandte sich sein Bruder wieder an Howard. »Eine Minute ist bereits um«, sagte er. »Sie sollten sich beeilen.«
Howard sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein und begann zu erzählen.
Aus den fünf Minuten war eine Stunde geworden, und wir redeten noch immer. Stanislas Cohen hatte uns durch einen verwahrlosten Korridor ins erste Geschoß des Hauses geführt, wo es neben einer Reihe heruntergekommener Zimmer eine Art Bibliothek gab, in der wir uns jetzt aufhielten. Fred, der grauhaarige Butler Cohens, hatte Tee gebracht, und Cohen hatte nicht einmal protestiert, als Howard eine seiner stinkenden Zigarren entzündet und damit begonnen hatte, die Luft im Raum zu verpesten. Howard und ich hatten ihm - abwechselnd - fast alles erzählt, was wir erlebt hatten: angefangen von der mißglückten Ratteninvasion in mein Arbeitszimmer, über den Überfall auf Lady Audleys Wagen bis zu dem Angriff, den Cohen selbst miterlebt hatte. Das einzige, was wir wohlweislich ausgelassen hatten, war das Tor, durch das die Ratten gekommen waren, dies und alles, was mit den GROSSEN ALTEN zusammenhing. Stanislas hatte immer wieder Fragen gestellt und alles ganz genau wissen wollen, ohne auch nur mit einer Miene zu verstehen zu geben, daß er uns kein Wort glaubte.
»Und das ist also der Grund, aus dem Sie gekommen sind«, sagte er, nachdem wir endlich geendet hatten und Howard erschöpft seine Zigarre ausdrückte - nur, um sich gleich eine neue anzuzünden. In seinen Augen blitzte eine Mischung aus Schrecken und kam verhohlenem Triumph, als er seinen Bruder ansah.
»Deshalb hast du sie hierher geführt.«
Wilbur nickte. Die Bewegung wirkte mühsam, als koste sie ihn unendliche Überwindung. »Ja«, sagte er knapp.
»Dann glaubst du mir endlich?« fragte Stanislas.
»Das habe ich nicht gesagt«, schnappte Wilbur. »Und wenn du es genau wissen willst, Stan, glaube ich auch nicht an irgendwelchen okkulten Kram -«
»Wie zum Beispiel Menschen mit Rattenköpfen?« warf sein Bruder spöttisch ein, aber Wilbur fuhr - in noch schärferem Tonfall als bisher fort: »- sondern nur an das, was ich gesehen habe. Und das waren Ratten, ganz normale Ratten, die plötzlich aus ihren Löchern gekrochen kamen und Menschen angegriffen haben.«
»Und wie erklärst du dir das?«
»Gar nicht«, sagte Wilbur zornig. »Daß ich hier bin, ändert nichts an dem, was ich über dich denke oder für dich empfinde, Stan. Ich bin für die Sicherheit dieser Stadt und ihrer Einwohner verantwortlich, das ist alles, was mich zu interessieren hat. Ich habe gesehen, wie Ratten Menschen angegriffen haben, sehr viele Ratten, und es besteht die Gefahr, daß sie es wieder tun.«
»Robert scheint ziemlich sicher zu sein«, warf Howard betrübt ein und sah mich dabei an.
Cohen schenkte ihm einen bösen Blick und fuhr fort: »Möglicherweise war es nichts als eine Art Massenhysterie unter den Tieren. Möglicherweise waren sie aber auch krank, und ein Vorfall wie der wird sich wiederholen. Wir müssen das Versteck dieser Ratten ausfindig machen und sie vertreiben oder töten.«
»Ihr Bruder war der Meinung, daß Sie uns dabei helfen könnten«, fügte ich hinzu.
Stan Cohen blickte abwechselnd von mir zu seinem Bruder. »Es muß sehr ernst sein, wenn du deswegen zu mir kommst, Wilbur«, sagte er leise.
Cohen nickte. »Das ist es, Stan. Ich bitte dich um nichts als einen Waffenstillstand zwischen uns, bis diese Angelegenheit vorbei ist. Ich verspreche dir nichts.«
»Können Sie uns helfen?« fragte Howard hastig, dem die ganze Situation immer peinlicher zu werden begann.
Einen Moment lang schien es, als hätte Stanislas seine Worte gar nicht gehört, denn er starrte unverwandt seinen Bruder an, aber dann nickte er, stand auf und deutete mit einer einladenden Geste auf eine Tür in der Schmalseite des Raumes.
Als Stanislas Cohen die Tür öffnete und mit einer einladenden Geste beiseite trat, verstand ich plötzlich, warum uns sein Bruder hierher geführt hatte.