Der Raum hinter der Tür war eine unbeschreibliche Mischung aus Bücherei, Laboratorium, Werkstatt und Chaos - wobei das Chaos überwog. Überall in dem gut dreißig mal dreißig Schritte messenden Raum standen Tische der unterschiedlichsten Größe, auf denen sich Bücher, Papiere, Glaskolben, Draht- und Glaskäfige, Tiegel, Töpfe, Truhen und verwirrende Versuchsanordnungen in heillosem Durcheinander drängten. Selbst auf dem Fußboden setzte sich das Chaos fort, so daß es schwer schien, hier drinnen auch nur einen Schritt zu tun, ohne auf irgend etwas zu treten. Und in der Luft lag ein scharfer, durchdringender Geruch.
Der Geruch nach Ratten.
Es gab nichts in diesem Zimmer, was nicht irgendwie mit Ratten zu tun hatte. Die Bücher, die sich schier zu Tausenden neben- und übereinander stapelten, handelten von Ratten, auf den Papierfetzen, die überall herumlagen, waren hingekritzelte Zeichnungen der grauen Nager, in den Käfigen befanden sich lebende und tote Ratten. Einige Tiere lagen halb seziert - und dem Geruch nach zu urteilen, bereits in Verwesung übergegangen - auf den Tischen oder zappelten in Versuchsanordnungen, deren Sinn Howard nicht einmal zu erraten wagte.
»Das ... ist sehr interessant«, sagte ich zögernd.
Cohen II stieß einen schwer zu deutenden Laut aus. »Interessant?« wiederholte er. »Verrückt, wollten Sie sagen, nicht wahr?« Er lachte böse, als ich schuldbewußt aufsah und vergeblich versuchte, überzeugend den Kopf zu schütteln.
»Mein verehrter Bruder hält mich für total übergeschnappt«, fuhr er fort, »und er hat in den letzten zehn Jahren nichts unversucht gelassen, auch den Rest der Welt davon zu überzeugen, daß ich in ein Irrenhaus gehöre. Aber das hier ist die Wahrheit!«
Erregt trat er vollends in den Raum hinein und machte eine weit ausholende Handbewegung. »Sie denken, ich wäre verrückt, wie? Sie denken, ich glaube Ihnen nicht? Ich weiß nur zu gut, wie verdammt recht Sie haben.«
»Die Ratten -«, begann Howard unsicher, wurde aber sofort wieder von Stan unterbrochen.
»Ich habe die letzten zehn Jahre damit verbracht, sie zu studieren«, schnappte der Hüne. »Und glauben Sie mir, ich weiß alles über sie. Ich weiß, wie sie leben. Ich weiß, was sie mögen und was sie fürchten. Ich weiß, wie sie denken. Wenn Sie jemanden suchen, der Ihnen helfen kann, diese weiße Bestie zu finden, dann mich.«
»Sie wissen, wo sie ist?« fragte ich erregt.
Cohen II schüttelte so heftig den Kopf, daß seine Haare flogen. »Nein«, sagte er. »Aber ich weiß, wie wir sie finden können. Ich bin der einzige, der Sie zu ihr führen könnte.«
Howard sah beinahe hilfesuchend zu Wilbur Cohen, aber der Blick des Captains war starr auf seinen Bruder gerichtet. Auf seinen Zügen spiegelte sich eine schwer zu beschreibende Mischung aus Schrecken, Abscheu und Mitleid.
»Es könnte ... gefährlich werden«, sagte ich stockend.
Stanislas Cohen lachte schrill. »Gefährlich?« kreischte er. »Sie belieben zu scherzen, wie? Es ist der reine Selbstmord, diese Bestie in ihrem Bau angreifen zu wollen. Dort unten wimmelt es von Ratten. Ratten und ... anderen Dingen.«
Howard sah ihn scharf an. »Dort unten?« wiederholte er. »Was meinen Sie damit? Wo?«
Stanislas lachte wieder, wandte sich halb zu seinem Bruder um und blickte ihn eine Sekunde lang triumphierend an, ehe er antwortete. »Dort, wo sie lebt. Die Königin der Ratten, Phillips. Die wahre Herrscherin über London.«
»Fang nicht schon wieder an, Stan«, sagte Wilbur.
Cohen II fuhr mit einem wütenden Zischen herum. Seine Gestalt spannte sich, als wolle er sich auf seinen Bruder stürzen. »Du glaubst mir noch immer nicht, wie?« fragte er. »Vielleicht wirst du mir glauben, wenn du ihr Auge in Auge gegenüberstehst, Wilbur. Aber möglicherweise ist es dann zu spät.« Er ballte die Fäuste, funkelte seinen Bruder noch eine Sekunde lang zornig an und wandte sich dann wieder an mich.
»Ich werde Sie hinbringen«, sagte er, mühsam beherrscht. »Unter einer Bedingung.«
»Welche?« fragte ich mißtrauisch.
Stanislas’ Gesicht verzerrte sich zu einer höhnischen Grimasse. »Wir gehen allein«, sagte er. »Nur Sie und ich und Ihr Freund. Und Wilbur.«
»Das ist Wahnsinn!« fuhr Howard auf. »Sie wissen nicht, was -«
»Ich weiß mehr als Sie, Sie Narr«, unterbrach ihn Stanislas wütend. »Sie glauben, Ihr Besuch überrascht mich? Keineswegs. Ich wußte die ganze Zeit, daß es eines Tages geschehen würde. Ich habe es in ihren Augen gelesen, als ich ihr gegenüberstand. Ich wußte, daß sie irgendwann damit beginnen würde, uns zu zeigen, wer der wahre Herr dieser Stadt ist. Und vielleicht dieser Welt.«
Ich schauderte, als Cohen II die letzten Worte sprach. Plötzlich begriff ich, daß Wilbur Cohen seinem Bruder vielleicht nicht so vollkommen unrecht getan hatte, wie dieser glaubte. Stanislas war ... sonderbar, vorsichtig ausgedrückt.
Aber er war auch wahrscheinlich der einzige, der uns jetzt noch helfen konnte.
»Nun?« fragte Stanislas Cohen, während er abwechselnd seinen Bruder, mich und Howard ansah. Schließlich nickte Cohen I, wenn er sich auch nicht einmal Mühe gab, das Unbehagen zu verbergen, das er dabei empfand.
»Dann kommt morgen früh wieder«, fuhr Cohen II fort. »Sobald die Sonne aufgeht -«
»Soviel Zeit bleibt uns nicht«, fiel ich ihm ins Wort.
Beide Cohens sahen mich überrascht an, und auch Howard runzelte die Stirn.
»Es ist eilig«, fuhr ich fort. »Bitter, Mister Cohen - wir wären nicht hier, wenn wir Zeit hätten. Wir müssen diese Albinoratte finden, bevor ...«
»Bevor was?« fragte Wilbur Cohen scharf.
»Lady Audley ist verletzt«, sagte ich anstelle einer direkten Antwort. »Sie war schon in schlechtem Zustand, als wir in die Kapelle geflüchtet sind. Ich fürchte, wir werden nur noch eine Tote bergen, wenn wir bis morgen warten.«
Das war eine glatte Lüge, zumindest, was die Behauptung anging, daß Lady Audley verletzt war, aber sie zeigte Wirkung. Cohen sah ziemlich erschrocken aus, als hätte ich ihn an etwas erinnert, was er von selbst hätte wissen müssen, und auch sein weißhaariger Bruder nickte bloß.
»Dann brechen wir gleich auf«, sagte er. »Es spielt auch gar keine Rolle, ob wir bei Tag oder Nacht dort hinuntersteigen.«
»Wo hinunter?« fragte Howard.
»In die Untergrundbahn, Mister Phillips«, antwortete Cohen. »Wohin denn sonst?«
Es dauerte schließlich doch noch länger als eine Stunde, bis wir Stanislas Cohens heruntergekommene Villa verließen; ohne Rowlf, der trotz seiner geharnischten Proteste zurückgeblieben war - zum einen, weil Cohen II darauf bestand, zum anderen, weil sowohl Howard als auch mir einfach wohler bei dem Gedanken war, daß es noch jemanden gab, der wußte, wohin wir gegangen waren - nur für den Fall, daß wir nicht wiederkamen. Cohens altersschwacher Diener kutschierte uns zur U-Bahn-Station am Piccadilly Circus, wo wir ausstiegen und wie ganz normale Reisende die Treppe hinuntergingen und ein Billett lösten.
Ich schauderte ein bißchen, als ich hinter Howard und den beiden ungleichen Brüdern durch die Sperre ging und auf den unterirdischen Bahnsteig trat. Ich hatte die U-Bahn niemals gemocht. Tatsächlich war ich nur ein einziges Mal damit gefahren, obwohl ich seit einem halben Jahr in der Themsestadt lebte und sie unbestreitbar das bequemste - und manchmal, wenn die Straßen mit Droschken und Pferdewagen vollgestopft waren, auch das schnellste - Verkehrsmittel darstellte. Aber die hohen, weißgekachelten halbrunden Tunnel und Gänge erfüllten mich mit Unbehagen, und obgleich die mannsdicken Stützpfeiler aus gutem Beton jeden Zweifler davon überzeugen mußten, daß sie sicher waren, hatte ich stets ein wenig das Gefühl, unter einem zusammenbrechenden Berg begraben zu sein. Vielleicht kam es daher, daß ich schon immer Angst vor Höhlen und unterirdischen Stollen gehabt hatte. Es war einfach ein bizarres Gefühl, zu wissen, daß sich nur wenige Yards über meinem Kopf nichts weniger als eine ganze Stadt erhob, mit all ihren Häusern und Menschen und Fahrzeugen.