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»Passen Sie auf ihn auf, ja?« bat er. »Er ist ...«

»Ich verstehe schon«, sagte ich. »Eine Stunde, okay?«

Cohen nickte. »Keine Sekunde mehr.«

Widerstrebend stand ich auf und trat neben Stan an den aufgebrochenen Tunneleingang. Dahinter erkannte ich den Anfang eines niedrigen, halbrunden Tunnels mit nur roh bearbeiteten Wänden.

Und er war nicht leer.

Nur wenige Schritte hinter dem Eingang lag ein Skelett. Ein menschliches Skelett.

»Großer Gott!« entfuhr es Howard, als er neben mich trat und sah, was dort als Begrüßung auf uns wartete. »Was ist das?«

»Jemand, der leichtsinnig genug war, hier herunter zu kommen«, antwortete Stan Cohen. Er grinste, aber auf eine Art, die mir ganz und gar nicht gefiel.

»Aber der tut Ihnen nichts mehr«, fügte er hinzu. Ich schenkte ihm einen finsteren Blick und schob mich, mit dem Rücken dicht gegen die Wand gepreßt, an dem grausigen Knochenhaufen vorüber. Das rote, flackernde Licht der Fackel schien den Totenschädel in Blut zu tauchen, und die zuckenden Schatten der hin- und hertanzenden Flamme füllten die leeren Augenhöhlen mit scheinbarem Leben.

Aber vielleicht war es nicht ganz so scheinbar, wie es im ersten Moment ausgesehen hatte. Ganz plötzlich bewegte sich der Schädel. Ein helles, schabendes Geräusch drang durch den grauen Knochen, und mit einem Male rollte der Totenschädel zur Seite, wippte wie ein angestoßener Ball noch ein paarmal hin und her, und der Unterkiefer klappte wie zu einem häßlichen Grinsen herab.

Aus dem offenstehenden Mund des Totenschädels kroch eine haarige, schwarze Ratte und verschwand aus dem unregelmäßigen Halbkreis rotgelber Helligkeit, den die Fackeln vor uns in den Gang zauberten. Ihre Schritte waren noch sekundenlang als leises, irgendwie metallisches Trappeln und Schaben zu hören. Und selbst danach bildete ich mir noch ein, die Blicke unsichtbarer kleiner Augen aus der Dunkelheit heraus zu fühlen.

Trotz der Kälte, die den Gang wie ein gläserner Hauch ausfüllte, perlte Schweiß auf meiner Stirn, und meine Handflächen fühlten sich plötzlich feucht und klebrig an. Ich hielt die Fackel viel fester, als nötig gewesen wäre. Mein Blick irrte unablässig durch den niedrigen, gewölbten Gang vor, saugte sich an der samtschwarzen Wand aus Dunkelheit fest und versuchte Umrisse zu erkennen, wo nur Schwärze und Finsternis waren.

»Wohin ... führt dieser Gang?« fragte ich. Meine Stimme kam mir fremd vor; die bizarre Akustik dieses unterirdischen Ganges verzerrte sie, und ihr Klang verriet mehr von meiner Nervosität, als mir recht war.

Stan Cohen, der wenige Schritte vor mir ging und mit seinen breiten Schultern den Stollen beinahe ausfüllte, blieb stehen, drehte sich halb um und grinste flüchtig, ehe er antwortete. »Nach unten, Mister Craven. Weiter nach unten. Zur Subway, um genau zu sein. Wenn auch zu einem Teil, den kaum noch jemand kennt.«

Ich sah den weißhaarigen Hünen fragend an. »Kaum noch? Wissen Sie, Cohen, ich bin Amerikaner und noch nicht lange Zeit in London, aber die Subway -«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, unterbrach mich Stanislas. »Sie haben gerade vor ein paar Jahren erst angefangen, die Untergrundbahn zu bauen.«

»So viel ich weiß, sind gerade erst ein paar Meilen fertig«, bestätigte ich. »Aber ein Gang, den kaum noch jemand kennt, bedingt ein ziemliches Alter.«

»Ich weiß«, antwortete Cohen. »Aber Sie werden schon sehen, was ich meine. Kommen Sie - wir haben nicht viel Zeit.«

Wir gingen weiter. Ich hielt mich dicht hinter Cohen, und trotz der Dunkelheit und der Massen von Schutt und Abfall, die den Boden bedeckten und das Gehen teilweise zu einem halsbrecherischen Abenteuer werden ließen, kamen wir schnell voran. Mein Orientierungssinn war genauso durcheinander geraten wie mein Zeitgefühl, seit wir das unterirdische Labyrinth betreten hatten, aber wir mußten weit mehr als eine Meile zurückgelegt haben, als Stan Cohen abermals stehenblieb, den Zeigefinger auf die Lippen legte, seine Fackel löschte und uns mit Gesten bedeutete, es ihm gleichzutun.

Ich legte gehorsam die Fackel zu Boden und hob den Fuß, zögerte aber, sie auszutreten. Für einen kurzen Moment glaubte ich einen Totenschädel zu sehen, aus dessen leeren Augenhöhlen schwarze, haarige Ratten hervorquollen.

Ich schüttelte die Vorstellung ab, aber es gelang mir nicht vollkommen; es blieb ein dumpfes, bohrendes Gefühl der Beunruhigung zurück, das beinahe schlimmer war als wirkliche Angst. Die Vorstellung, hier unten schutzlos der Dunkelheit ausgesetzt zu sein, war mir unerträglich. Aber es mußte sein. Cohen hatte uns lang und breit genug erklärt, wie licht- und geräuschempfindlich sie waren. Was uns geschehen konnte, wenn ihr Vorhaben fehlschlug, hatte er uns nicht erklärt.

Aber das war auch nicht nötig. Meine Phantasie reichte durchaus, es sich in allen nur denkbaren - und ein paar undenkbaren - Einzelheiten auszumalen.

»Nun machen Sie schon!« sagte Cohen ungeduldig.

Mit einem resignierenden Seufzen senkte ich den Fuß auf das Ende der Fackel.

Die Dunkelheit schlug wie eine erstickende Woge über uns zusammen. Und danach - wie in einem zweiten, noch wuchtigeren Hieb - die Furcht. Es war ein bizarres Gefühclass="underline" es war keine Furcht, wie ich sie schon einmal erlebt oder gekannt hätte, sondern ein Empfinden von solcher Direktheit und Wucht, daß meine intellektuelle Gegenwehr versagte. Für Sekunden hatte ich meine Gedanken nicht mehr unter Kontrolle, und meine überreizte Phantasie gaukelte mir Dinge vor, die nicht da waren - das Rascheln und Schleifen großer pelziger Leiber, die uns in der Dunkelheit umschlichen; ein leises, irgendwie boshaftes Quieken und Zischeln, das fast übermächtige Gefühl, beobachtet, nein, schlimmer noch - belauert zu werden ...

Ich preßte die Kiefer so fest aufeinander, daß meine Zähne hörbar knirschten. Der Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen, aber er verscheuchte auch die Bilder, die aus meinem Unterbewußtsein hervorstiegen. Trotzdem blieb ich noch sekundenlang mit geballten Fäusten und fast krampfhaft zusammengepreßten Lidern stehen, ehe ich es wagte, mich zu entspannen und vorsichtig die Augen zu öffnen.

Im ersten Moment sah ich weiter nichts als undurchdringliche Schwärze, dann glaubte ich einen sanften Hauch grünlichen Lichtes zu erkennen, irgendwo vor uns, in unbestimmbarer Entfernung. Stoff raschelte, direkt neben mir bewegte sich ein Schatten, und eine Hand berührte mich an der Schulter.

»Alles wieder in Ordnung?« fragte Cohen.

Ich nickte, erst dann fiel mir ein, daß Cohen die Bewegung in der Dunkelheit schwerlich sehen konnte, und sagte: »Ja.«

Cohen richtete sich neben mir zu seiner vollen Größe auf. »Ich weiß, daß Sie halb verrückt sind vor Angst«, sagte er. »Das geht hier unten jedem so. Selbst mir. Ich war schon unzählige Male hier unten, und es ist jedes Mal genauso schlimm wie am ersten Tag.« Er schwieg einen ganz kurzen Moment, und als er weitersprach, war seine Stimme hörbar verändert.

»Ich weiß nicht, was es ist«, sagte er. »Es muß irgend etwas mit diesen Gängen zu tun haben. Vielleicht eine Art Gas, das hier unten in der Luft liegt.« Seine Stimme hörte sich nicht so an, als glaube er selbst an die Begründung, die er sich zurecht gelegt hatte. Aber die Worte brachten mich auf etwas anderes, das Cohen gesagt und was ich schon fast vergessen hatte.

»Wie meinen Sie das - diese Gänge? Vorhin -«

»Ich weiß, was ich vorhin gesagt habe«, unterbrach mich Cohen. »Kommen Sie - es ist viel einfacher, wenn Sie selbst sehen, was ich gemeint habe.« Er drehte sich herum, ergriff mich einfach am Handgelenk und führte mich wie ein kleines Kind hinter sich her. Trotz der beinahe vollkommenen Dunkelheit bewegte er sich mit traumwandlerischer Sicherheit. Entweder, überlegte ich, hatte er Augen wie eine Katze, oder er war schon so oft hier gewesen, daß er buchstäblich jeden Fußbreit Boden kannte. Die zweite Erklärung schien mir wahrscheinlicher.