Meine Geduld wurde auf keine harte Probe mehr gestellt. Der sonderbare Schein nahm rasch an Intensität zu und wurde zu einem fast taghellen, sanftgrünen Licht, das den gewölbten Stollen auf eine Länge von mehr als fünfzig Schritten erhellte. Dann sah ich auch, woher er kam:
Der Gang erstreckte sich gerade vor uns, so weit der Blick reichte, aber in einer Entfernung von kaum zwanzig Schritten klaffte im Boden ein kreisrundes, gut mannsgroßes Loch, aus dem ein grünliches, sonderbar flackerndes Licht drang.
Nein, verbesserte ich mich in Gedanken. Nicht drang. Floß. Es war das einzige Wort, das mir passend erschien. Vorhin, als ich den grünen Schein das erste Mal bemerkt hatte, war er mir nur sonderbar vorgekommen, obwohl er auf beunruhigende Weise an das grüne Teufelslicht erinnerte, das ich in der vergangenen Nacht auf dem Friedhof von St. Aimes gesehen hatte. Jetzt wirkte er bedrohlich. Es war das absonderlichste Licht, das ich jemals erblickt hatte: es schien sich - obgleich ich sehr wohl wußte, daß dies eine physikalische Unmöglichkeit war - langsam zu bewegen, träge, wie in schwerfälligen, wellenförmigen Schüben, als wäre es gar kein richtiges Licht, sondern eine Art leuchtendes Gas oder Wasser. Und es war unangenehm.
»Was ist das?« fragte ich.
Stanislas Cohen blieb abrupt stehen, drehte mit einem wütenden Ruck den Kopf und starrte mich an. »Sie sollen still sein, zum Teufel!« zischte er. »Wir sind ihnen sehr nahe.« Er deutete auf den Schacht, der jetzt keine drei Schritte mehr vor uns lag. »Können Sie klettern?«
Ich nickte. Cohen machte eine Grimasse, die wie ein unausgesprochenes Wenigstens etwas aussah, ging rasch bis zum Rand des Schachtes und kniete umständlich nieder. Als Howard und ich neben ihm anlangten, sahen wir, daß eine Anzahl rostiger Eisenringe an seiner gegenüberliegenden Seite in die Tiefe führte. Sie waren nicht genau untereinander, sondern versetzt angeordnet, doch man konnte sie mit einigem Geschick als Leiter benutzen. Ich vermochte allerdings nicht zu erkennen, wo sie endeten, denn das fremdartige Licht war hier sehr viel intensiver, so daß sich der Schacht schon nach wenigen Yard in wirbelnden grünen Schleiern aufzulösen schien.
Cohen nickte mir noch einmal aufmunternd zu, ging - ohne sich dabei aus der Hocke zu erheben, was seine Art der Fortbewegung einigermaßen komisch aussehen ließ - um den Schacht herum und begann unverzüglich die Ringleiter hinabzusteigen. Wir mußten ihm folgen, ob wir wollten oder nicht. Aber das unangenehme Gefühl, das ich dabei hatte, wurde immer stärker; mit jeder Stufe.
Der Abstieg war sehr mühsam, denn der Abstand der eisernen Ringe war nirgendwo gleich, und zudem hatte die Zeit hier unten ihren Tribut gefordert: mehrere Ringe waren zerfallen oder fehlten ganz, so daß mein Fuß mehr als einmal ins Leere stieß und ich mich auf abenteuerliche Weise zum nächsten Ring hangeln mußte. Einmal verlor ich gar den Halt und hing endlose Sekunden lang an nur einer Hand über dem Nichts, ehe Cohen nach oben griff und meine wild pendelnden Füße festhielt, um sie zum nächsten sicheren Ring zu schieben.
Ich war in Schweiß gebadet, als wir endlich den Grund des bizarren Schachtes erreichten und unter unseren Füßen wieder fester Boden war. Aufatmend drehte ich mich herum, wollte einen Schritt machen - und unterdrückte im letzten Augenblick einen entsetzten Aufschrei, als Cohen mich grob beim Jackenkragen ergriff und zurückzerrte.
Was ich für sicheren Boden gehalten hatte, war ein kaum doppelt handbreiter, gemauerter Sims, hinter dem die Wand senkrecht abbrach und weitere dreißig, vierzig Fuß in die Tiefe führte. Der Boden darunter war von wirbelnder, einzeln nicht erkennbarer Bewegung erfüllt. Ein widerlicher Gestank lag in der Luft und machte das Atmen schwer.
Cohen bedeutete uns mit Gesten, still zu sein, ließ sich abermals in die Hocke sinken und rutschte so lange hin und her, bis er auf dem Sims saß und seine Beine frei über dem Abgrund pendelten. Umständlich griff er in seine Rocktasche, förderte zwei zusammengefaltete weiße Tücher und ein kleines Fläschchen zutage, öffnete dessen Verschluß und tränkte die beiden Lappen damit, ehe er einen davon Howard reichte.
Howard schnüffelte. »Ammoniak?« fragte er verwundert.
Cohen nickte ärgerlich, griff in seine andere Tasche und zog einen faustgroßen Glaskolben hervor, in dem eine farblose Flüssigkeit schwappte. »Wenn ich das Ding hier werfe«, flüsterte er, »dann pressen Sie sich das Tuch vors Gesicht und atmen hindurch. Auf keinen Fall nehmen Sie es herunter, ehe ich Ihnen das Zeichen gebe - verstanden?«
Howard - und erst recht ich - verstanden ganz und gar nicht. Aber ich nickte trotzdem, sog mir die Lungen noch einmal voller Luft und preßte den ammoniakgetränkten Lappen auf Cohens Zeichen hin vor Mund und Nase.
Cohen holte aus, warf den Glaskolben in die Tiefe und hob hastig sein eigenes Tuch. Irgendwo unter uns klirrte Glas, und plötzlich war die Höhle voller pfeifender und quietschender Laute und unruhiger Bewegung.
Ohne das grüne Licht hätte ich kaum erkennen können, was unter uns vorging, denn der Ammoniakgestank trieb mir die Tränen in die Augen; meine Kehle schien zu verbrennen, und mir wurde augenblicklich übel. Trotzdem preßte ich das Tuch mit beinahe verzweifelter Kraft gegen Mund und Nase und zwang mich, die ätzende Luft einzuatmen. In dem Glaskolben mußte sich irgendein Gas befinden, giftiges Gas höchstwahrscheinlich. Das Ammoniak in dem Tuch neutralisierte die tödliche Wirkung.
Wenigstens hoffte ich, daß es das tat.
Das Pfeifen und Quietschen unter uns wurde allmählich leiser. In meinem Kopf begann sich langsam alles zu drehen, und meine Augen waren so voller Tränen, daß ich nur wie durch Nebel hindurch sah, wie Cohen nach einer Weile sein Tuch senkte, vorsichtig die Luft einsog und Howard und mir zunickte.
Ich nahm das Tuch herunter und atmete gierig ein halbes dutzendmal ein und aus. Die Luft roch noch immer scheußlich, und es war jetzt noch ein neuer, widerwärtiger Geruch hinzugekommen, der eine leicht benommen machende Wirkung auszuüben schien. Aber nach dem flüssigen Feuer, das ich minutenlang geatmet hatte, erschien mir all dies wie ein Labsal.
»Kommen Sie, Craven«, sagte Cohen ungeduldig. »Die Wirkung hält nicht sehr lange vor. Ich möchte weit weg sein, wenn sie wiederkommen.« Er stand auf, balancierte mit traumwandlerischer Sicherheit auf dem schmalen Steg entlang und winkte uns ungeduldig, ihm zu folgen.
Der Sims führte gut dreißig Schritte weit an der Wand entlang und endete vor einer schmalen, in kühnem Winkel in die Tiefe führenden Rampe. Ich blieb unwillkürlich stehen, als ich hinter Cohen auf die erste Stufe trat und den Boden der Höhle erkennen konnte.
Er war voller Ratten.
Obgleich ich den Anblick erwartet hatte, sträubte sich sekundenlang alles in mir dagegen, weiterzugehen. Es mußten Tausende von Ratten sein, die dicht gedrängt auf den ausgewaschenen Steinen lagen, und längst nicht alle von ihnen waren tot oder gänzlich betäubt. Überall in der gewaltigen haarigen Masse zuckte und bebte es, kleine, tückische Augen starrten uns an, halb gelähmte Krallen scharrten hilflos über Stein ...
Es kostete mich enorme Anstrengung, meinen Widerwillen zu überwinden und hinter Cohen die Treppe hinabzusteigen. Brechreiz stieg aus meinem Magen empor, als ich die letzte Stufe erreichte und unter meinen Füßen plötzlich borstiges Fell und kleine zuckende Körper waren.
Wir verließen die Höhle, so schnell wir nur konnten. Ein weiterer, steil in die Tiefe führender Gang nahm uns auf, und wieder mußten wir durch einen Bereich dieses unheimlichen, grünlichen Lichtes. Und wieder war es mir, als wäre der fremdartige Schein weit mehr als Licht. Ich glaubte seine Berührung auf der Haut zu spüren; zu fühlen, wie er in meine Kleider drang, in Mund und Nase und Ohren kroch und alles mit dem giftigen grünen Odem der Hölle füllte.