Wie Wasser, dachte ich schaudernd. Oder wie eine Barriere.
Cohen war bereits einige Yard vorausgeeilt und stehengeblieben. Ich konnte sein Gesicht in der unheimlichen grünen Helligkeit nicht richtig erkennen. Aber ich spürte die Nervosität des weißhaarigen Riesen direkt.
»Was ist das hier unten?« fragte ich, als Cohen fertig war und weitergehen wollte. »Vorhin sagten Sie, ich würde es sehen, aber ich muß gestehen, daß ich wenig von dem, was ich gesehen habe, wirklich verstehe.«
Cohen schwang sich seinen Sack über die Schulter und nickte. »Niemand weiß das genau«, sagte er. »Diese Gänge wurden durch einen Zufall entdeckt; vor Jahren, als sie mit den ersten Grabungen für die Untergrundbahn begonnen haben. Ein halb fertiggestellter Tunnel stürzte ein, und dahinter kam der Anfang dieses Stollens zum Vorschein.« Er machte eine weit ausholende Geste und sah mich ernst an. »Ein paar Männer sind hineingegangen, um ihn zu erkunden, aber sie kamen nicht zurück. Danach haben sie eine Rettungsmannschaft geschickt, und eine weitere, die die Rettungsmannschaft retten sollte. Ein einziger Mann ist zurückgekommen. Und den haben sie für verrückt erklärt.«
»Und dieser Mann waren ... Sie?«
Stanislas Cohen nickte. »Ja. Niemand hat mir geglaubt - und ich muß gestehen, daß es eine Zeit gab, in der ich mich selbst gefragt habe, ob die anderen vielleicht recht hatten und ich schlicht und einfach den Verstand verloren habe, damals. Nachdem sie den Zugang vermauert und den Stollen aus den Plänen herausgestrichen haben, bin ich wieder hierher gekommen und habe auf eigene Faust Nachforschungen angestellt.« Er brach ab, und für einen Moment ging sein Blick an mir vorbei ins Leere.
»Und was ... haben Sie gesehen?« fragte ich leise.
»Sie«, antwortete Stan mit bebender Stimme. »Die weiße Ratte, Craven. Das Ungeheuer, das Sie mir beschrieben haben.«
»Woher wollen Sie wissen, daß es dieselbe war?« fragte Howard. »Es kann mehr als nur eine Albinoratte geben.«
»Ich weiß es!« widersprach Cohen heftig. Seine Augen blitzten wie die eines Wahnsinnigen. Mit einer fast wütenden Bewegung deutete er auf mich. »Fragen Sie Ihren Freund, er wird es Ihnen bestätigen. Sie ist ... kein Tier. Nicht irgendein Tier, wie all diese anderen. Sie ist ...« Er rang krampfhaft nach Worten, dann zuckte er die Achseln und sagte nur: »anders.«
Er seufzte, dann wechselte er übergangslos das Thema. »Dieser Stollen ist nicht der einzige«, erklärte er. »Es gibt viele solcher Gänge. Meilen um Meilen, Craven. Und es gibt böse Dinge hier unten.«
Er sprach nicht weiter, und ich spürte, daß ich auch keine Antwort mehr bekommen würde, wenn ich versuchte, nachzuhaken. Es gibt böse Dinge hier unten, klangen Cohens Worte hinter meiner Stirn nach. Es war seltsam - gerade der Schrecken, den er nicht aussprach, war viel schlimmer als der, den er bezeichnet hatte ...
Wir gingen weiter. Das grüne Licht blieb ganz langsam hinter uns zurück, und nach einer Weile erreichten wir eine Stelle, an der irgend jemand vor zahllosen Jahren einige Fackeln deponiert hatte; vielleicht Cohen, vielleicht auch der unglückselige Mann, dessen Skelett wir gefunden hatten. Stan Cohen kniete nieder, nahm einen der teergetränkten Stäbe auf und ließ ein Streichholz aufflammen. Augenblicke später wich die ewige Nacht dem roten Widerschein der Fackeln.
Howard schrie gellend auf, als er sah, was sich bisher hinter der Wand aus Schwärze verborgen hatte.
Zuerst war da nur Schmerz; ein dumpfes, quälendes Pochen, als klopften harte Fingerknöchel von innen gegen meine Schädeldecke. Dann, ganz langsam, regte sich mein Bewußtsein; der pochende Schmerz verging, und statt dessen kamen Übelkeit und ein quälendes Brennen dicht über meinem rechten Ohr, wo mich der Schlag getroffen hatte.
Dann die Bilder.
Dunkelheit. Der plötzliche rote Glanz einer Fackel, Licht, das in den Gang stieß und Bahnen flackernder Helligkeit in eine Nacht fraß, die vielleicht seit Anbeginn der Zeit währte. Ich erinnerte mich, das schon fast vertraute Bild des Ganges gesehen zu haben, dann die Ratten, deren Anblick nicht einmal unerwartet kam, trotzdem aber von einem heißen Schrecken begleitet war. Ratten, die so groß waren wie Schäferhunde.
Eine Weile versuchte ich mit aller Kraft, mir einzureden, daß es nur Teil eines absurden Traumes war, den ich geträumt hatte. Schäferhundgroße Ratten gab es nicht.
Aber irgend etwas sagte mir, daß es kein Traum gewesen war ...
Ich versuchte, mich auf meine Umgebung zu konzentrieren. Im ersten Moment sah ich nichts. Um mich herum war ein dunkelgrauer kränklicher Schimmer unangenehmen Lichtes, und es dauerte lange, bis sich meine Augen so weit umgestellt hatten, mich wenigstens Schemen erkennen zu lassen. Ich versuchte, mich zu bewegen, und merkte erst jetzt, daß ich in einer unbequemen, halb aufrechten Haltung an der Wand lehnte. Meine Hand- und Fußgelenke wurden gehalten von breiten, rostzerfressenen Eisenringen, die mit kaum handlangen Ketten an der Wand befestigt waren. Leise rief ich Howards Namen, dann den Cohens. Aber ich bekam keine Antwort.
Ich mußte sehr lange in dieser Stellung hier gehangen haben, denn meine Handgelenke waren blutig aufgeschürft, und mit dem Erkennen kam der Schmerz. Meine Haut brannte wie Feuer, und mein Rücken schien mit einer Million glühender Nadeln gespickt zu sein.
Ich stemmte mich in die Höhe, so weit es meine Fesseln zuließen, und drehte den Kopf nach rechts und links. Die Kammer, in der ich mich befand, war nicht groß - ein unregelmäßiges Rund von weniger als zehn Schritten Durchmesser - aber dafür so hoch, daß ihre Decke nicht sichtbar war. Fast wie ein Turm, der auf absurde Weise fünfzig Yard tief unter die Erde geraten war. Die Riesenratten waren nicht da, aber ich war auch nicht allein. Auf der anderen Seite der Kammer, genau gegenüber, lehnten zwei halb zusammengesunkene Gestalten an der Wand, wie ich von Ketten gehalten und offenbar ohne Bewußtsein. Stanislas Cohen und Howard.
Ich hörte ein Geräusch, wandte abermals den Kopf und sah, wie sich in der scheinbar massiven Wand eine ovale, gut mannshohe Öffnung auftat. Ein Dutzend großer Ratten strömte wie eine braungraue Flut herein, gefolgt von einer nur schemenhaft erkennbaren Gestalt mit spitzem Gesicht, die unter der Tür stehenblieb, während die Ratten in der Kammer ausschwärmten. Ich wartete darauf, daß Cindy - denn um niemand anderes konnte es sich bei der Gestalt mit dem Rattenkopf handeln - mich ansprach oder sonst irgend etwas tat, aber sie blieb reglos stehen, und es dauerte mindestens zehn Minuten, ehe draußen, auf dem unsichtbaren Gang, wieder Schritte laut wurden.
Etwas an ihrem Rhythmus störte mich. Ich wußte nur nicht, was.
Und als ich es erkannte, hätte ich um ein Haar aufgeschrien.
Es war nicht das erste Mal, daß ich dem Monstrum gegenüberstand. Es war eine Ratte. Aber nicht irgendeine Ratte, sondern ein Ungeheuer, das der Urvater aller Ratten sein mußte.
Sie war weiß, von einer so makellosen, strahlenden Farbe, daß ihr Anblick beinahe blendete. Ihr Körper war so groß wie der eines Schäferhundes - sonderbar, viel größer, als ich sie in Erinnerung hatte -, und zusammen mit dem nachschleifenden, nackten Schwanz mußte sie gute anderthalb Meter messen. Ihre Augen hatten die Farbe geronnenen Blutes.
Und das Schlimmste war der lodernde Funke boshafter Intelligenz, der darin lauerte.
Langsam kam das Tier (Tier?!) näher, blieb dicht vor mir stehen und erhob sich für einen Moment auf die Hinterläufe, um mich eingehend zu beschnüffeln. Dann drehte es sich herum, trippelte zu Cohen hinüber und untersuchte auch ihn, weitaus länger und eingehender als mich zuvor. Schließlich blieb sie einen Moment vor Howard sitzen, dann hatte sie ihre Musterung beendet und lief zurück zur Tür, verließ die Kammer jedoch nicht, sondern blieb neben Cindy hocken und sah zu ihr hoch.