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Stan Cohen stöhnte, öffnete die Augen und versuchte sich aufzurichten, sank aber sofort mit einem neuerlichen Wimmern wieder in sich zusammen.

»Stehen Sie auf!« sagte das Mädchen mit dem Rattenschädel. Seine Stimme war kaum zu verstehen. Es klang, als versuche ein Tier zu sprechen, das nicht den notwendigen Stimmapparat dazu hatte. Auch sie hatte sich verändert, dachte ich schaudernd.

Trotzdem reagierte der weißhaarige Hüne darauf. Mühsam stemmte er sich in die Höhe und hob den Kopf. Dann sah er die weiße Ratte.

Es war, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten. Mit einem Schrei fuhr er hoch, wurde von den Ketten zurückgerissen und warf sich einen Moment lang in sinnloser Raserei gegen die unzerbrechlichen Fesseln. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse des Hasses.

»Toben Sie ruhig«, sagte Cindy. »Aber es wird Ihnen nichts nutzen.«

»Du Ungeheuer!« brüllte Cohen. Seine Stimme war hoch und schrill wie die eines Wahnsinnigen, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, daß er gar nicht Cindy, sondern die weiße Ratte anbrüllte. »Du verdammte Bestie. Ich werde -«

»Nichts werden Sie«, unterbrach ihn Cindy. »Sie hätten nicht hierherkommen sollen. Jetzt werden Sie sterben. Alle drei.«

»Das nützt dir nichts mehr!« keuchte Cohen. »Es ist vorbei, du Bestie. Sie werden kommen und -«

»- und sterben«, fiel ihm Cindy ins Wort. »Es ist gut, daß sie kommen, denn wir brauchen sie.« Sie trat einen Schritt zurück und stellte sich so hin, daß sie mich und Cohen gleichzeitig ansehen konnte. »Sie beide und ihr Freund werden nur die ersten sein, deren Leben wir nehmen. Vielleicht tröstet es Sie, zu wissen, daß Ihr Tod einem höheren Zweck dient.«

»Wie originell«, murmelte ich. »Aber irgendwo habe ich das schon einmal gehört.«

Der Kopf der Albinoratte ruckte mit einer abrupten Bewegung herum. Ein schriller Pfiff ertönte.

»Ihr Galgenhumor ist unangebracht, Robert«, sagte Cindy.

Es klang fast traurig. »Und auch dieser Scotland-Yard-Mann, den Sie zurückgelassen haben, wird Ihnen nicht mehr helfen.«

»Sie ... wissen?« entfuhr es mir.

Die Albinoratte pfiff erneut, und Cindy sagte: »Nichts, was in meiner Stadt vorgeht, bleibt mir verborgen, Craven. Ihre Gedanken sind ein offenes Buch, in dem ich lesen kann.«

Und plötzlich begriff ich, daß es in Wahrheit gar nicht Cindy war, die zu mir sprach, sondern der Albino. Das Mädchen diente ihr nur als die Stimme, die sie nicht hatte.

»Das stimmt«, sagte Cindy. »Sie sind ein intelligenter Mann, Robert Craven. Doch nun kommen Sie. Der Herr wartet.«

Ein letzter, befehlender Pfiff ertönte, und Cindy - oder das, was von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte - trat gehorsam nacheinander auf Cohen, Howard und mich zu und löste unsere Fesseln. Die weiße Riesenratte folgte uns, eskortiert von einem Dutzend der riesigen, haarigen Tiere, die eine Art Leibwache für sie zu bilden schienen. Die Garde der Königin, dachte ich schaudernd.

Einen ganz kurzen Moment lang dachte ich an Flucht, aber ich verwarf den Gedanken beinahe schneller, als er mir gekommen war. Selbst, wenn wir unseren Bewachern und der Rattenarmee entkommen wären, hätten wir keine Chance. Ich wußte nicht, wo wir waren. Ich hätte nicht einmal gewußt, in welche Richtung ich fliehen sollte, und wahrscheinlich lauerten in den grauen Schatten, die die gewölbten Gänge erfüllten, im wahrsten Sinne des Wortes Millionen von Ratten.

»Auch das ist richtig«, sagte Cindy. »Es wäre Selbstmord, Robert.«

Ich schenkte ihr einen bösen Blick und konzentrierte mich mit aller Macht auf das Bild einer riesigen schwarzen Katze, die eine Ratte geschlagen hat und sie genüßlich verspeist. Die Albinoratte gab einen Laut von sich, der beinahe wie ein Lachen klang.

Das unterirdische Tunnelsystem schien kein Ende zu nehmen. Unsere Bewacher führten uns durch ein wahres Labyrinth von Stollen, Gängen, schräg abfallenden Rampen und gewaltigen, leeren Hallen, über Treppen und steil abfallende, schneckenhausartig gewundene Ebenen tiefer und tiefer in die Erde hinein. Ich versuchte, irgend etwas Vertrautes oder zumindest Bekanntes in meiner Umgebung zu entdecken, aber die Architektur dieser titanischen unterirdischen Anlage war mit nichts vergleichbar, was ich jemals gesehen hätte. Es gab Gänge, die sich sinnlos hin und her wanden, Treppen, die im Nichts endeten oder auf so absurde Weise gebogen und in sich verdreht waren, daß es mir unmöglich war, sie länger als wenige Sekunden anzusehen, ehe mir schwindelig wurde.

Wir legten den Rest des Weges schweigend zurück. Cindy führte uns tiefer und tiefer hinein in das unterirdische Labyrinth von Stollen und Gängen, bis wir eine gewaltige, von düstergrünem flackerndem Licht erfüllte Halle erreichten.

Trotz ihrer Größe platzte sie im Moment vor Ratten aus den Nähten.

Ich schätzte, daß sich in der bizarr geformten unterirdischen Kuppel an die hunderttausend der grauen Tiere aufhalten mußten; eine quirlende Armee, die den Boden wie ein lebender Teppich bedeckte.

Neben mir stöhnte Cohen wie unter Schmerzen, und Cindy schenkte ihm einen fast mitleidigen Blick. »Haben Sie wirklich geglaubt, mit diesem irrsinnigen Plan Erfolg zu haben?« Sie lachte, leise und sehr verletzend. »Sie sehen, wie sinnlos es ist, sich wehren zu wollen. Niemand kann uns jetzt noch aufhalten.«

Ich sah sie an, und ... irgend etwas war da, etwas in ihren Augen, das nicht hätte dasein dürfen. Ein winziger, aber sichtbarer Funke von Menschlichkeit, der nicht zu dem Bild des monströsen Etwas passen wollte, das ich durch die Augen der Ratte gesehen hatte. Schaudernd dachte ich an das, was Lady Audley gesagt hatte: ... es hat einen Teil von ihr erweckt, Robert. Vielleicht hatte sie recht gehabt. Vielleicht gab es in ihr noch einen winzigen Funken Menschlichkeit, etwas, das alle Dämonen der Vorzeit und alle intelligenten Riesenratten nicht hatten auslöschen können.

»Bitte, Cindy!« sagte ich, in fast flehendem Ton. »Tun Sie es nicht!«

»Was?« fragte sie spöttisch.

»Was immer Sie vorhaben«, antwortete ich. »Sie ... dürfen dieses Ungeheuer nicht erwecken, ich flehe Sie an!«

»Sie flehen mich an? Sie enttäuschen mich, Robert. Ich habe Sie für tapferer gehalten.«

»Verdammt, ich würde auch vor Ihnen auf den Knien rutschen, wenn ich damit irgend etwas ändern könnte! Ich -«

»Schweigen Sie!« unterbrach mich Cindy scharf. »Sie verstehen nichts.«

»Das will ich auch gar nicht«, antwortete ich ebenso scharf wie sie. Ich wußte, wie sinnlos es war, dieses Gespräch überhaupt zu führen. Aber ich mußte Zeit gewinnen. Ich wußte nicht, wie lange ich bewußtlos gewesen war, aber die Stunde, die wir mit Cohen vereinbart hatten, mußte längst vorbei sein.

»Was ich gesehen habe, war schon mehr als genug«, fuhr ich fort.

Das Mädchen blieb stehen. Ihr Blick flammte vor Zorn. »Sie verstehen nichts«, sagte sie noch einmal. »So wie alle anderen vor ihnen.«

»Dann erklären Sie es mir!« verlangte ich. »Erklären Sie mir, was das alles hier zu bedeuten hat. Erklären Sie mir, warum Sie und Ihre - wie soll ich sie nennen: Brüder und Schwestern? - warum Sie Ihr Leben wegwerfen, um ein Ungeheuer zu erwecken?!«

Ein abfälliges Lächeln huschte über die Lippen des Mädchens. »Wir werfen unsere Leben nicht fort«, sagte sie heftig - und sie sagte tatsächlich wir! »Was Sie erleben werden, ist unsere Erfüllung. Der Tag, auf den wir seit Generationen gewartet haben.«

»Ihren Tod?«

»Für Sie mag es so aussehen, aber was bedeutet das?« fragte das Mädchen. »Was bedeutet der Tod eines einzelnen oder auch von hundert, wenn es um das Schicksal eines Volkes geht?«