Dann zerbrach es.
Ein heller, peitschender Laut erscholl; ein Geräusch, als würde eine gewaltige Bronzeglocke zerspringen. Kleine, scharfkantige Metallsplitter flogen als tödliche Geschosse durch die Luft, und schließlich begann die Brust des riesigen Tieres zu reißen. Ein haardünner, gezackter Spalt erschien, raste wie ein schwarzer Blitz seinen Hals hinauf, über Schnauze, Stirn und Schädel des Tieres wieder zurück und den Rücken entlang. Ein fürchterliches Knirschen und Mahlen erscholl aus der Brust des Ungetümes. Schließlich brach es in zwei Teile, die klirrend zu Boden fielen.
Etwas Schwarzes, Formloses quoll aus seinem Körper.
Im ersten Augenblick hatte ich den Eindruck, einer gewaltigen Spinne gegenüberzustehen, aber schon in der nächsten Sekunde erkannte ich, daß das nicht stimmte. Das Ding schien nur aus haltlosem brodelndem Schleim zu bestehen, eine widerliche schwarze Masse, pulsierend und zuckend, die immer wieder schwarze Pseudopodien ausbildete, Füße und Arme zu formen versuchte und wieder zerfiel. Armdicke Tentakel wuchsen aus dem menschengroßen Ball schwarzer Materie hervor, peitschten wie blinde Schlangen die Luft und wurden mit einem schmatzenden Geräusch zurückgesaugt.
Ein Zittern lief durch die schwarze Masse. Langsam, als hätte sie kaum noch die Kraft dazu, bildete sie einen schwarzen, nervendünnen Strang aus, der tastend wie eine blinde Schlange auf Lady Audley zukroch, ihre Hand berührte und ohne sichtbaren Widerstand in ihre Haut drang.
Ich schrie auf, griff in die Tasche und riß einen der Sternsteine hervor, die ich noch immer in meiner Tasche trug; meine letzte, verzweifelte Hoffnung, das Monstrum wenigstens aufzuhalten, das da vor meinen Augen erwachte.
Ich kam nicht einmal dazu, ihn zu werfen.
Ein grauer Schatten sprang an mir empor; rasiermesserscharfe Zähne gruben sich in meine Haut. Ich schrie auf, ließ den Stein fallen und brach in die Knie.
Ich schloß mit einem Stöhnen die Augen, aber was ich nicht verschließen konnte, waren die Ohren. Die Geräusche, die ich hörte, waren schrecklich genug, mir zu verraten, was weiter geschah. Das furchtbare Schmatzen und Saugen wurde lauter, steigerte sich zu einem Geräusch, das sich wie eine glühende Messerklinge in mein Denken grub, und verklang dann; ganz allmählich nur.
Als ich die Augen wieder öffnete, lagen Dutzende von toten Ratten vor dem pulsierenden schwarzen Balg, aber zu meiner unendlichen Erleichterung stand Lady Audley noch aufrecht und unversehrt da, nur durch den dünnen glitzernden Nervenstrang mit dem schwarzen Ungeheuer verbunden. Offensichtlich war sie als letztes Opfer vorgesehen.
Mein Magen krampfte sich zusammen, als ich sah, auf welche Weise sich Shub-Niggurath verändert hatte.
Aus dem zuckenden Klumpen war ein elefantengroßer, aufgedunsener Balg glitzernden schwarzen Fleisches geworden, eine titanische Scheußlichkeit, die wie ein pulsierendes Krebsgeschwür in der Mitte der Halle hockte, zuckende Tentakel wie die Stränge eines feuchtschwarzen Spinnennetzes in alle Richtungen streckend, mit zahllosen, schnappenden Mäulern und mehr als einem Dutzend gewaltiger blinder Augen, die wie gräßliche Blüten auf langen, feuchtglitzernden Stielen wippten. Mir wurde schlecht.
KOMM NÄHER, MENSCHENWURM! dröhnte eine Stimme in meinen Gedanken.
Ich krümmte mich wie unter einem Schlag. Verzweifelt bemühte ich mich, dem befehlenden Klang der lautlosen Stimme zu widerstehen, aber mein Wille zerbrach wie eine Glasscheibe unter dem Tritt eines Giganten. Gegen meinen Willen setzten sich meine Beine in Bewegung und trugen mich auf den zuckenden Giganten zu. Mein Blick folgte den dünnen, glitzernden Fäden, die von seinem mißgestalteten Leib ausgingen. Sie waren unterschiedlich lang und zum Teil ineinander verflochten - aber fast alle endeten in kleinen, leblosen Bällen aus grauem Fell. Ratten. Die Opfer, die er brauchte, um wieder zum Leben zu erwachen, so wie er Lady Audley brauchen würde, um den letzten Schritt aus den Dimensionen des Wahnsinns hinüber zu tun.
Und es wurden mehr und mehr der schwarzen, pulsierenden Fäden. Binnen weniger Augenblicke war der Boden der Halle von einem engmaschigen Netz dünner glitzernder Stränge bedeckt. Im ersten Moment erinnerte es mich an ein übergroßes Spinnennetz, aber dann sah ich die Bewegung, das schwerfällige Zucken und Beben, das unablässig durch die Masse lief, die dünnen Stränge, die an den Körpern der Ratten emporgewachsen waren und überall in ihre Haut eindrangen, und begriff, daß es eine Art Nervengeflecht sein mußte, ein gigantisches lebendes Etwas, dessen Zentrum die schwarze Masse war.
Zwei Schritte vor der schwarzen Scheußlichkeit blieb ich stehen. Mein Mund war voller bitterer Galle, und ich spürte, daß ich mich gleich übergeben würde. Trotzdem hob ich den Kopf und raffte all meine Kraft zusammen, um dem Blick der gigantischen trüben Augen Shub-Nigguraths standzuhalten.
»Was ... was willst du von mir?« stöhnte ich.
NICHTS, antwortete das Ding, WAS DU MIR FREIWILLIG GEBEN WÜRDEST. ABER DAS SPIELT KEINE ROLLE. DU WIRST MIR DIENEN, WIE ALLE ANDEREN.
»Wenn du mich töten willst, dann tu es«, sagte ich trotzig, obwohl ich halb verrückt war vor Angst.
Die Antwort bestand in einem lautlosen, bösen Lachen in meinen Gedanken.
NARR, flüsterte die Stimme. DU WIRST STERBEN, ABER NICHT HIER UND NICHT JETZT. DEINE ZEIT IST NOCH NICHT GEKOMMEN. UND NUN KNIE NIEDER!
Ich gehorchte. Ein helles, widerwärtiges Schmatzen drang aus dem aufgedunsenen Fleischberg vor mir, dann klaffte seine Flanke auf wie eine gewaltige schwärende Wunde, und ein dünner, peitschender Faden ringelte sich auf mich zu.
Gelähmt und hilflos mußte ich ansehen, wie der Tentakel meinen Fuß berührte, an meiner Hose emporkroch und sich meinem Gesicht näherte. Ein unbeschreiblicher Ekel stieg in mir hoch, aber die geistige Fessel Shub-Nigguraths war zu fest. Ich konnte nicht einmal die Augen schließen.
Der Tentakel kroch weiter, näherte sich meinem Gesicht, berührte tastend mein Kinn, dann meine Unterlippe, zuckte zurück, kroch weiter und floß wie eine schwarze Schlange meinen Nacken hinauf. Ein dünner Schmerz bohrte sich in meinen Schädel.
Etwas griff nach meinem Geist, aber gleichzeitig ...
Es war, als wären plötzlich zwei unterschiedliche Willen in mir, zwei Bewußtseine, die unabhängig voneinander arbeiteten - eines, das fest in Shub-Nigguraths Gewalt war und sich nicht einmal mehr dagegen wehren wollte, von diesem entsetzlichen Vampir aufgesogen zu werden, und ein anderes, das mir mit fast grausamer Deutlichkeit jedes winzige Detail der schrecklichen Szenerie zeigte.
Neben mir richtete sich Lady Audley stöhnend auf. Ihr Gesicht war bleich, und ihre Mundwinkel zuckten unablässig.
Und ...
etwas geschah mit den Ratten. Während Shub-Nigguraths Tentakel weiter und weiter wuchsen und immer mehr der Tiere ergriffen, um sie auszusaugen wie reife Früchte, passierte ... irgend etwas.
Und wieder hatte ich das Gefühl, der Lösung ganz nahe zu sein. Da war etwas, was ... Kilian? gesagt hatte. Etwas, das geschehen war. Die grauen Herren. Nicht die Ratten. Ratten sind die anderen.
Und dann wußte ich es.
Mit einer verzweifelten Anstrengung riß ich mich los, zog den Stockdegen unter dem Mantel hervor und durchtrennte den dünnen schwarzen Strang, der sich in Lady Audleys Hand gebohrt hatte.
Das Monstrum reagierte unglaublich schnell. Die beiden Königsratten rechts und links von mir regten sich nicht, aber das schwarze Nervengeflecht auf dem Boden zuckte wie unter einem elektrischen Schlag. Ein ganzes Dutzend dünner, ölig glänzender Fäden peitschten gleichzeitig in meine Richtung.
Blitzschnell zertrennte ich sie mit dem Degen, aber schon schossen neue heran, wickelten sich wie unzerreißbare dünne Ärmchen um meine und Lady Audleys Beine und versuchten uns zu Boden zu zerren.
Ich raffte allen Mut zusammen, den ich noch in mir fand, warf mich herum und stieß die Klinge bis ans Heft in Shub-Nigguraths pulsierenden Leib.