Er lächelte seinem Spiegelbild zufrieden zu.
Was er sah, gefiel ihm, - ein junger Mann von neunzehn Jahren, schlank, aber mit der Figur eines hochtrainierten Athleten. Seine verdreckten und mit Brandflecken übersäten Kleider und das eingetrocknete Blut an seinem Haaransatz ließen ihn wild und gleichzeitig abenteuerlich aussehen. Shannon war kein Narziß, aber er war mit Recht stolz auf seinen Körper. Und er wußte darüber hinaus, wie wichtig es war, dieses empfindliche, unersetzliche Werkzeug seines Geistes zu pflegen und ständig in Höchstform zu halten. In den letzten Tagen hatte er gleich mehrmals nur überlebt, weil er im wahrsten Sinne des Wortes in der Lage gewesen war, Übermenschliches zu vollbringen.
Shannon beendete seine Musterung, rieb das eingetrocknete Blut mit dem Handrücken von der Stirn, so gut es eben ging, und wollte sich zur Tür wenden, als irgend etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Das schmale Jungengesicht seines Spiegelbildes blickte plötzlich mißtrauisch drein.
Im ersten Moment sah er nichts Auffälliges, aber dann gewahrte er einen Schatten, der sich dicht hinter ihm bewegte, nicht viel mehr als ein Luftwirbel oder ein flüchtiger Hauch.
Shannon fuhr ansatzlos herum, riß die Arme hoch - und erstarrte.
Das Zimmer war leer. Aber plötzlich spürte er wieder den Atem des Fremden, Feindseligen, der wie ein übler Geruch im Zimmer zu hängen schien. Es war ein Gefühl, als schlösse sich eine unsichtbare Hand um ihn, langsam, aber unbarmherzig. Verwirrt wandte er sich wieder um. Sein Herz begann zu rasen, als er erneut in den Spiegel sah.
Der Schatten war wieder da. Deutlicher jetzt als zuvor, als verdichte sich die Finsternis hinter ihm ganz allmählich zu einem Körper.
Aber hinter ihm war nichts!
Eine eisige Hand schien Shannons Rücken zu streifen, als er begriff, daß der Schatten nicht hinter ihm, sondern nur hinter seinem Spiegelbild war, und daß -
Er spürte die Gefahr beinahe zu spät.
Eine rasche, wellenförmige Bewegung lief über die Oberfläche des Spiegels, ein Zucken wie eine plötzliche Erschütterung in stillem Quecksilber, und von einem Sekundenbruchteil zum anderen wurde aus dem Schatten ein Körper, aus dem wogenden Schwarz ein Gesicht. Ein schmales, aristokratisch geschnittenes Gesicht, von einem dünn ausrasierten Bart beherrscht, ein Gesicht mit stechenden Augen und einem dünnen, grausamen Mund, darüber rabenschwarzes Haar mit einer weißen Strähne wie ein gefrorener Blitz ...
Und dann hob die Gestalt die Arme, und ihre Hände griffen aus dem Spiegelbild heraus und legten sich um Shannons Hals!
Shannon schrie auf, warf sich zurück und versuchte den Würgegriff mit einem verzweifelten Schlag zu sprengen.
Genausogut hätte er versuchen können, einen Berg mit bloßen Händen beiseite zu schieben. Der Druck auf seine Kehle verstärkte sich eher noch.
Shannon keuchte und riß das rechte Bein in die Höhe. Seine Kniescheibe traf den Spiegel mit der Wucht eines Hammerschlages und zerschmetterte ihn vollends, aber hinter dem zerberstenden Glas war nichts, nur ein Schatten, ein Spiegelbild ohne reale Substanz. Und trotzdem spürte er den Griff des Unheimlichen weiter ...
Shannon begann zu wanken. Rote, flammende Ringe tanzten vor seinen Augen auf und ab, und in seinen Lungen begann ein grausamer Schmerz zu rasen. Er fühlte, wie seine Kraft nachließ, wie die Hände Cravens das Leben aus ihm herauspreßten und ...
Craven
Der Name erschien wie mit flammenden Lettern geschrieben vor Shannons Augen.
Irgend etwas schien in ihm zu zerbrechen. Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, kehrten seine Erinnerungen endgültig zurück. Plötzlich wußte Shannon, wem er gegenüberstand - Robert Craven, dem Sohn des Magiers! Dem Mann, den zu vernichten er hergekommen war.
Er ahnte nicht, daß dies sein größter Irrtum war, daß dieser Mann nicht Robert Craven, sondern dessen Vater Roderick Andara war. Daß sein Freund Jeff in Wirklichkeit der Sohn des Magiers war. Aber der Gedanke, wenn auch nur ein Irrtum, gab ihm noch einmal neue Kraft. Er spürte, wie der Haß in ihm emporkochte wie eine Woge aus glühender Lava, griff danach und wandelte ihn um in Kraft, so, wie es ihn Necron gelehrt hatte.
Mit einem verzweifelten Schlag sprengte er Cravens Griff, stürzte rücklings auf das Bett und wälzte sich blitzschnell zur Seite, als die Gestalt im Spiegel die Hand hochriß. Ein blauweißer Blitz sengte dicht neben seinem Kopf in die Kissen und verbrannte sie zu Asche.
Shannon fuhr herum, erhob sich mit einem Satz auf die Knie und schlug mit aller geistiger Macht zu. Die Gestalt hinter dem Spiegel schien zu flackern. Für einen Moment war es, als zeichneten kleine gelbe Flammen ihre Konturen nach; sie taumelte, verlor für die Dauer eines Herzschlages an Substanz und verdichtete sich wieder. Ihre Hände hoben sich. Blaue Elmsfeuer zuckten über ihre Finger.
Aber der tödliche Blitz, auf den Shannon gefaßt war, blieb aus. Statt dessen gewann Cravens Körper mehr und mehr an Substanz, bis er schließlich keinem Spiegelbild mehr, sondern einem scheinbar lebenden Menschen aus Fleisch und Blut gegenüberstand. Aber der Eindruck zerstob, als er Cravens Stimme hörte. Es war nicht die Stimme eines lebenden Menschen, und seine Lippen bewegten sich nicht, als er sprach.
Ich könnte dich vernichten, Shannon, wisperte Cravens Stimme hinter Shannons Stirn. Du bist mir ausgeliefert.
Shannon starrte die unheimliche Erscheinung an und schwieg. Er wußte, daß Craven recht hatte - seine Kräfte waren schwach. Die Regeneration hatte ihn viel Energie gekostet; mehr, als er bisher gespürt hatte. Sein Angriff hatte Craven überrascht, mehr nicht. Und er fühlte, wie gewaltig die Macht des Hexers in diesem Augenblick war. Warum tötete er ihn nicht?
Weil ich dich vielleicht noch brauche, antwortete Craven, und Shannon begriff voller Schrecken, daß der Magier seine Gedanken las.
Craven lachte leise. Wundert dich das? fragte er. Hat dir dein Meister nicht gesagt, wer der Mann ist, den du vernichten sollst? Er blickte Shannon einen Moment nachdenklich an und beantwortete seine eigene Frage dann mit einem Kopfschütteln. Nein, fuhr er fort. Ich sehe, er hat es dir nicht gesagt. Necron hat sich nicht geändert, in all den Jahren.
»Was willst du?« fragte Shannon gepreßt. »Mich vernichten oder mich verhöhnen?«
Keines von beiden, mein junger närrischer Freund, antwortete der Magier - Ich hätte dich schon gestern vernichten können, wenn ich das wirklich gewollt hätte. Du warst mir ausgeliefert, so wie du es jetzt bist. Aber ich will dich nicht töten. Du bist nicht mein Feind.
»Aber du meiner!« keuchte Shannon. Voller Wut wollte er aufstehen, aber Craven machte eine rasche, fast beiläufige Bewegung mit der Hand, und der junge Magier brach mit einem schmerzhaften Keuchen zusammen.
Das bin ich nicht, Shannon, widersprach er. Man hat dir gesagt, daß ich dein Feind wäre, aber das stimmt nicht. Necron belügt dich. So, wie er euch alle belügt. Aber ich verlange nicht, daß du mir glaubst.
»Was willst du?« keuchte Shannon. »Töte mich, oder verschwinde. Ich -«
Was ich will? Craven lachte, und diesmal klang es so häßlich, daß Shannon instinktiv aufsah und die unheimliche Erscheinung mit neu erwachender Furcht anstarrte.
Ich will dir eine letzte Chance geben, deine Meinung zu ändern, du Narr, sagte Craven zornig. Ich bin nicht dein Feind, sondern im Gegenteil ein Feind derer, die auch du bekämpfst.
»Was ... was meinst du damit?« fragte Shannon stockend. Innerlich tobte er noch immer vor Haß und Zorn, aber Cravens Worte hatten irgend etwas in ihm berührt, etwas wie ein verborgenes Wissen, von dessen Existenz er selbst bis zu diesem Augenblick noch keine Ahnung gehabt hatte. Er wußte einfach, daß der Magier in diesem Augenblick die Wahrheit sagte. »Was soll das heißen?«