Seltsamerweise machten mich seine Worte verlegen. »Das wollte ich nicht sagen«, murmelte ich. »Es tut mir leid.«
»So?« Der Riese lachte meckernd, und wie um ihm beizupflichten, stimmte der Wolfsmann ein meckerndes Kojotengelächter an. »Es tut Ihnen leid, Andara? Das braucht es aber nicht. Jetzt nicht mehr«, fügte er mit veränderter, drohender Stimme hinzu. »Leid hätte es Ihnen vor zweihundert Jahren tun sollen. Jetzt ist es zu spät. Jetzt werden Sie den Preis für Ihr Tun bezahlen.«
Das kleine Zimmer war leer bis auf einen Stuhl, der verloren neben der Tür stand. Die beiden Fenster waren sorgsam mit schwarzen Stoffbahnen verhängt worden, so daß ich nicht zu sagen vermochte, ob es Tag oder Nacht war, und das einzige Licht kam von einer schwarzen, bizarr geformten Kerze, die neben dem Stuhl auf dem Boden stand.
Es war kalt. Meine Kleider klebten vor Nässe am Körper, ich fühlte mich müde, durchgefroren und hundeelend. Stunde um Stunde - wie mir schien - hatte uns der mißgestaltete Riese durch die Abwasserkanäle geschleppt. Ich hatte insgeheim darauf gehofft, eine Möglichkeit zur Flucht zu finden, aber der häßliche Riese hatte, anstatt uns loszubinden, Howard und mich scheinbar mühelos über die Schulter geworfen und uns getragen, selbst für einen Kerl wie ihn eine erstaunliche Leistung. In diesem Haus angekommen, hatte er mich in den verdunkelten Raum geworfen, die Kerze entzündet und die Tür hinter sich verschlossen.
Seitdem wartete ich. Ich wußte bloß nicht, worauf.
Ich wußte auch nicht, wieviel Zeit vergangen war; mein Zeitgefühl war durcheinandergeraten, und einmal war ich vor Erschöpfung eingeschlafen.
Schließlich hörte ich draußen vor der Tür Schritte. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß, und die Tür schwang quietschend auf. Drei, vier Personen betraten den Raum, schwarze Schatten gegen den grell erleuchteten Hintergrund, dann wurde die Tür wieder geschlossen.
Der Luftzug hatte die Kerze gelöscht. Irgendwo vor mir raschelte es, dann flammte ein Streichholz auf, und der Docht verbreitete erneut trübgelbe Helligkeit. Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten und aus den Schatten allmählich vier menschliche Gestalten wurden.
Zwei von ihnen kannte ich - es waren der Riese und Wulf. Der dritte war ein schlanker, dunkelhaariger Mann unbestimmbaren Alters, der auf den ersten Blick beinahe normal aussah; allerdings auch nur auf den ersten Blick.
Die vierte Person war eine Frau. Eine sehr alte Frau - achtzig, vielleicht sogar neunzig Jahre, schätzte ich. Ihr Gesicht glich einer zerschundenen Landschaft aus Falten und tief eingeschnittenen Narben, grau und fleckig wie altes Pergament und ebenso tot. Das einzige Lebendige darin waren die Augen. Augen, deren Blick mich schaudern ließ.
»Andara«, murmelte der Mann an ihrer Seite. »Endlich haben wir dich. Endlich!«
Seine Stimme drang nur wie durch einen dämpfenden Vorhang an mein Bewußtsein. Der Blick der Alten bannte mich. Es war keine Hypnose, sondern etwas anderes, etwas viel Finstereres und Böseres.
Mühsam löste ich meinen Blick von dem der Alten und versuchte mich aufzusetzen, so gut es die Fesseln zuließen. »Wer ... wer sind Sie?« fragte ich stockend. »Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?«
»Mein Name tut nichts zur Sache, Andara«, antwortete der Mann grob. »Ich bin Lowry Temples, aber das wird Ihnen nichts sagen, vermute ich.«
»Nein«, antwortete ich. »So wenig, wie ich weiß, warum mich Ihre Schläger entführt haben und warum ich hier bin.«
Temples Augen blitzten auf. »Das wissen Sie wirklich nicht?« fragte er. »Aber natürlich - es ist lange her, nicht wahr? Zweihundert Jahre sind selbst für einen Mann wie Sie eine lange Zeit, Roderick Andara.«
Ich wollte antworten, aber die Alte kam mir zuvor.
»Das ist nicht Andara«, sagte sie ruhig.
Temples erstarrte. Verwirrt blickte er mich an, dann die Alte, und dann wieder mich. »Das ist ...«
»... nicht Roderick Andara«, sagte die Alte noch einmal. »Ich weiß, was ich sage, Lowry.«
»Aber er muß es sein!« keuchte Temples, beinahe verzweifelt. »Er sieht so aus wie auf den Bildern, und ich ... ich habe seine Macht selbst gespürt. Und Curd auch und die anderen!«
»Er sieht aus wie er«, bestätigte die Alte. »Er hat seine Macht und sein Wissen. Aber er ist es nicht. Glaube mir, Lowry - ich würde ihn erkennen, stünde er vor mir.«
»Aber wer ...« Temples schluckte nervös, atmete hörbar ein und starrte aus brennenden Augen auf mich herab. »Wer sind Sie denn?« fragte er.
»Ich bin sein Sohn«, sagte ich leise. »Mein Name ist Craven, nicht Andara. Robert Craven.«
»Sein Sohn ...« Temples erbleichte. Seine Lippen begannen zu zittern, und für einen Moment trübte sich sein Blick. »Der Sohn des Magiers.«
»Ich bin Andaras Sohn«, wiederholte ich, »aber glauben Sie mir, das ist alles, was ich mit ihm zu tun habe. Was immer mein Vater getan haben mag - ich weiß nicht, was es war, und ich weiß nicht, warum er es getan hat.« Ich seufzte. »Bis vor ein paar Tagen wußte ich nicht einmal, daß es einen Ort namens Innsmouth gibt.«
Temples lachte. Es klang häßlich. »Das ändert nichts«, sagte er hart. »Ob Sie nun Andara oder Craven heißen, spielt keine Rolle.«
»Lowry«, sagt die Alte. »Bitte - er kann nichts dafür. Er sagt die Wahrheit, glaube mir. Er weiß nicht, was hier geschehen ist.«
»Das weiß mein Sohn auch nicht!« brüllte Temples. »Ich sage dir, sei still, Ayres! Er wird für die Tat seines Vaters bezahlen, so wie mein Sohn für das bezahlt, was mein Urahne getan haben soll. Auge um Auge.«
»Und du glaubst, du würdest das Unrecht gutmachen, indem du ein neues begehst?« fragte Ayres leise. Ihr versöhnlicher Ton täuschte, das spürte ich. Es hörte sich an, als stünde sie auf meiner Seite, aber das stimmte nicht. Ich konnte das Fremde, Böse, das von ihrer Seele Besitz ergriffen hatte, fast sehen.
»Ich will nichts wiedergutmachen«, antwortete Temples hart. »Ich will Rache, Ayres, nichts als Rache.«
»Und wofür?« fragte ich. »Ich weiß ja nicht einmal, was hier geschehen ist, Temples. Seien Sie vernünftig und -«
»Vernünftig?« Plötzlich schrie Temples auf, beugte sich vor und schlug mir mit der flachen Hand über den Mund; so heftig, daß mein Kopf zurückflog und meine Unterlippe aufplatzte. Der Wolfsmann stieß ein drohendes Knurren aus.
»Vernünftig?« schrie Temples noch einmal. »Sie verlangen von mir, vernünftig zu sein, Craven? Sie wissen nicht, was Sie reden! Sie ... Sie werden sterben, das schwöre ich Ihnen. So qualvoll, wie mein Sohn leben wird und die Kinder der anderen, werden Sie sterben.« Wieder hob er die Hand, um mich zu schlagen, aber diesmal fiel ihm der Riese in den Arm und riß ihn zurück. Temples heulte vor Wut auf und versuchte nach dem Giganten zu schlagen, aber Curd schüttelte nur den Kopf und drückte seinen Arm herunter.
»Ruf ihn zurück!« keuchte Temples. »Verdammt, Ayres, er soll mich loslassen!«
»Curd!« Die Stimme der Alten klang scharf wie ein Peitschenhieb. Der Riese fuhr zusammen, ließ Temples los und zog sich wie ein geprügelter Hund zurück. »Und du«, fuhr Ayres, an Temples gewandt, fort, »bist vernünftig. Er ist unschuldig.«
Temples starrte sie haßerfüllt an und massierte seine schmerzenden Oberarme.
»Unschuldig!« Er spie das Wort fast aus. »So wie mein Sohn, wie? Wie ich und Curd und Wulf und die anderen?«
Ich richtete mich wieder auf, zog die gesprungene Unterlippe zwischen die Zähne und spuckte Blut auf den Boden. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte ich gepreßt. »Aber ich glaube, ich habe wenigstens das Recht auf eine Erklärung.«
Temples wollte auffahren, aber die Alte unterbrach ihn wieder. »Er hat recht, Lowry«, sagte sie ruhig. »Zeige es ihm. Zeige ihm, was sein Vater den Menschen in Innsmouth angetan hat.«
Das Feuer war erloschen, aber über der Ruine lag noch ein Hauch drückender, trockener Hitze. Aus den zerborstenen Stein- und Holzmassen, zu denen das Gebäude zusammengesunken war, stieg noch immer schwarzer Qualm, dann und wann auch ein Funkenschauer, je nachdem, wie der Wind stand.