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Shannon wehrte den Angriff ab und versuchte zu Rowlf hinauf auf den Kutschbock zu gelangen. Ein Messer blitzte auf. Shannon wich der Klinge aus, packte ihren Besitzer an Kragen und Handgelenk und verdrehte ihm so den Arm, daß er sich das Messer selbst in den Oberschenkel stieß. Aber sofort nahm ein anderer seine Stelle ein. Shannon taumelte unter Schlägen, wehrte einen neuerlichen, gemeinen Messerstich ab und verschaffte sich mit ein paar Ellenbogenstößen Luft.

Es war nur eine winzige Atempause, die ihm gegönnt war. Selbst einem so hochtrainierten Körper wie ihm wäre es unmöglich gewesen, sich auf Dauer einer so gewaltigen Übermacht zu erwehren.

Aber Shannon war nicht allein auf die Kraft seines Körpers angewiesen. Blitzschnell richtete er sich auf, trat der Meute mit hoch erhobenen Armen entgegen und brüllte ein einzelnes, scheinbar sinnlos klingendes Wort.

Und plötzlich war der Sturm da.

Es war kein normaler Wind, sondern eine heiße, sengende Bö, brüllend und wild wie der Atem eines feurigen Drachen. Und sie kam aus dem Nichts, entstand an einem Punkt irgendwo zwischen Shannons hochgereckten Händen und den Gesichtern der Angreifer, trieb sie wie ein Hagel unsichtbarer Fausthiebe zurück, versengte ihre Haare und Brauen und ließ ihre Kleider schwelen. Kleine, gelbe Flämmchen zuckten nach ihren Gesichtern, und das Geschrei der aufgeputschten Menge verwandelte sich urplötzlich in einen Chor von Schmerzlauten.

Shannon schwang sich rasch auf den Kutschbock hinauf, riß Rowlf, der dem Geschehen mit ungläubig aufgerissenen Augen gefolgt war, Zügel und Peitsche aus der Hand und hieb auf die Pferde ein.

Wenige Augenblicke später raste das zweispännige Gefährt wie von Furien gehetzt aus der Stadt.

Hinter ihnen tobte der Höllensturm weiter.

Das Haus stand am Ortsrand von Innsmouth, ein wenig abgesondert von den anderen und irgendwie geduckt und düster, als schäme es sich seiner Ärmlichkeit. Sein Inneres war kühl und dunkel, obwohl die Fenster offenstanden und Licht und Wärme des Tages hineinließen. Es war sehr still; die Laute, die von draußen hereindrangen, wirkten irreal, als hätten Leid und Kummer hier ein eigenes Reich errichtet, in dem die Geräusche der lebenden Welt dort draußen nichts verloren hatten. Und ich spürte den Schmerz, der so zu diesem Haus gehörte wie die grauen Wände und die ärmlichen, zum größten Teil selbstgebauten Möbel.

Temples bedeutete mir mit einer befehlenden Geste, zurückzubleiben, und der Riese legte mir warnend die Hand auf die Schulter. Wulf hatte meine Füße losgebunden, so daß ich mein Gefängnis wenigstens aus eigener Kraft hatte verlassen können, aber meine Arme waren nach wie vor auf die gleiche, brutale Weise auf den Rücken gefesselt. Sie schmerzten unerträglich, und aus meinen Händen war das Gefühl längst gewichen. Sie würden absterben, wenn die Fessel nicht bald abgenommen oder wenigstens gelockert würde.

Während Temples den Raum durchquerte und hinter einer Tür in der gegenüberliegenden Wand verschwand, sah ich mich neugierig um. Das Haus wirkte so ärmlich, wie es von außen ausgesehen hatte - es gab keinen Luxus wie Tapeten oder Teppiche oder auch nur eine Lampe. Auf dem Tisch stand eine heruntergebrannte Kerze, und das einzige größere Möbelstück war ein offener Schrank, in dem ärmliches Blechgeschirr zu säuberlichen Stapeln sortiert war.

Ein sonderbares Gefühl von Bitterkeit überkam mich, als ich daran dachte, daß auch die anderen Häuser des Ortes kaum anders aussahen als Temples’ Hütte. Die Leute hier in Innsmouth waren arm, mehr als arm.

Temples kam zurück, und Curd versetzte mir einen Stoß in den Rücken, der mich vorwärts und auf ihn zu taumeln ließ. Temples ergriff meinen Arm, dirigierte mich grob vor sich her durch die Tür und deutete auf das schmale, mit zerschlissenen grauen Tüchern bezogene Bett, das den winzigen Verschlag fast vollkommen ausfüllte.

In dem Bett lag eine Frau. Sie schlief, und trotz ihres blassen, von Fieber und Schmerzen gezeichneten Gesichtes erkannte ich, daß sie sehr schön sein mußte, und sehr jung; kaum älter als ich selbst. Nicht das, was ich mir als Lowry Temples Frau vorgestellt hatte ...

»Ihre Frau?« fragte ich leise.

Temples nickte. Sein Gesicht war wie Stein, ohne die geringste Regung, aber in seinen Augen flackerte ein Licht, das mich schaudern ließ. »Ja«, antwortete er. »Aber das wollte ich Ihnen nicht zeigen. Ich bin Vater geworden, Craven. Heute morgen.«

Etwas an der Art, in der er die Worte aussprach, hielt mich davon zurück, ihm zu gratulieren oder sonst irgendwie zu antworten. Wortlos starrte ich ihn an, bis er sich umwandte, am Bett vorbeiging und mir mit Gesten bedeutete, ihm zu folgen.

Neben dem Bett stand eine Wiege, hastig improvisiert aus einem längs durchgeschnittenen Faß und Stroh, über das ein zerschlissener Kissenbezug gestreift war. Tempels deutete hinein, wartete ungeduldig, bis ich näher getreten war, und legte die Hand auf das Laken, mit dem das Kind zugedeckt war.

»Mein Sohn«, sagte er.

Ich beugte mich über die Wiege, betrachtete den schlafenden Knaben eine Weile und sah dann wieder zu Temples auf. »Ein hübsches Kind«, sagte ich, und die Worte waren wirklich ehrlich gemeint. Ich habe eine Menge neugeborener Kinder gesehen in meinem Leben, und die meisten waren häßlich wie die Nacht. Temples’ Sohn war es nicht; im Gegenteil.

»Meinen Glückwunsch«, fügte ich hinzu. »Ein so hübsches Kind sieht man selten. Sie können stolz darauf sein.«

»Finden Sie?« fragte Temples. Dann zog er das Bettlaken mit einem Ruck herunter.

Darunter war das Kind nackt.

Und als ich seinen Körper sah, wurde mir übel.

»Hier - nehmen Sie.« Die alte Frau drückte mir einen Becher mit heißem, dampfendem Kaffee in die Hand. Mit zitternden Händen führte ich ihn an die Lippen, trank mit raschen, fast gierigen Zügen und schmeckte den Rum, den sie hineingegossen hatte.

»Es tut mir leid«, sagte sie und setzte sich mir gegenüber. »Aber ich hielt es für besser, wenn Sie mit eigenen Augen sehen, was hier geschehen ist.«

»Warum redest du noch mit ihm, Ayres?« schnappte Temples. Sein Gesicht war bleich, und auf seiner Stirn glänzte Schweiß. Ihn hatte der Anblick des Säuglings ebenso getroffen wie mich.

Ayres schüttelte den Kopf, faltete die Hände auf der Tischplatte und sah Temples fast mitleidig an. »Du bist ein Narr, Lowry«, sagte sie. »Dieser Mann ist nicht Roderick Andara, begreifst du das nicht?«

»Er ist sein Sohn«, antwortete Temples stur. »Das macht keinen Unterschied.«

Ich sah auf, versuchte vergeblich, seinem Blick standzuhalten, und sah betreten an ihm vorbei auf die geschlossene Tür zur Schlafkammer. »Es ... es tut mir leid, Mister Temples«, sagte ich leise. »Ich weiß nicht, was hier geschehen ist, aber Sie haben mein volles Mitgefühl.«

Als ich die Reaktion auf meine Worte sah, hätte ich mich am liebsten selbst geohrfeigt. Temples’ Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse des Hasses. Ganz gleich, ob er mir glaubte oder nicht - diese bedauernswerte Kreatur dort drinnen war sein Sohn! Meine Worte mußten wie grausamer Hohn in seinen Ohren klingen.

»Was bedeutet das alles?« fragte ich, nun wieder an Ayres gewandt.

Die alte Frau sah mich einen Herzschlag lang mit undeutbarem Blick an, ehe sie antwortete. Es war absurd - von allen hier war sie die einzige, die mich bisher nicht als Feind behandelt hatte. Sie hatte mich im Gegenteil sogar in Schutz genommen, und wahrscheinlich hatte ich es einzig ihr zu verdanken, daß ich überhaupt noch lebte. Und trotzdem wurde das Gefühl der Bedrohung, das ich bei ihrem Anblick empfand, mit jeder Sekunde stärker.

»Was Sie hier sehen, Mister Craven«, sagte Ayres, »ist das Werk Ihres Vaters. Der Fluch, den er auf die Bewohner dieser Ortschaft legte und der sie seit zweihundert Jahren verfolgt.«