Im gleichen Moment berührte etwas beinahe sanft mein rechtes Bein.
Ich brüllte vor Schrecken und Ekel und riß verzweifelt den Fuß zurück. Ich spürte einen harten Ruck, gefolgt von einem Brennen, als wäre meine Haut mit ätzender Säure in Berührung gekommen. Schwarze Schatten griffen nach meinen Beinen, und der Arm, der die Tür zugeschmettert hatte, näherte sich mit tastenden Bewegungen meinem Gesicht. Wo er das Holz des Balkens berührte, begann sich dünner Rauch in die Höhe zu kräuseln.
Ich riskierte alles. Jeden Gedanken an Gefahr und Schmerz ignorierend, spannte ich noch einmal die Muskeln, holte mit den Beinen Schwung - und zog mich auf den Balken hinauf.
Die peitschenden Arme unter mir griffen ins Leere. Für einen Moment glaubte ich ein wütendes, enttäuschtes Zischen zu hören, dann verstärkte sich das Brodeln der schwarzen Masse. Ein ganzer Wald peitschender Tentakel und zitternder Nervenfäden schoß wie eine grausame Flutwelle auf mich zu. Gleichzeitig zuckte der Tentakel, der sich um meinen Balken gewickelt hatte, hoch und schlug nach meinem Gesicht.
Ich duckte mich, verlor dabei auf dem kaum handbreiten Balken beinahe den Halt und hieb instinktiv mit dem Arm nach dem Ding.
Es war ein Gefühl, als hätte ich in weiches, widerliches warmes Gelee geschlagen. Ein brennender Schmerz zuckte durch meinen Arm, und ein Teil meiner Jacke begann zu schwelen.
Aber der Hieb hatte das Ding zurückgeschleudert.
Für einen Moment hatte ich Luft. Mit verzweifelter Kraft richtete ich mich auf, streckte beide Arme aus und machte einen vorsichtigen Schritt auf die geschlossene Tür zu.
Ein schwarzes Etwas zuckte aus der Tiefe herauf, wickelte sich wie eine Peitschenschnur um mein Bein und riß daran. Ich fiel zur Seite, verlor das Gleichgewicht, prallte auf den Balken auf und drohte abzurutschen. Instinktiv klammerte ich mich fest, aber der Tentakel zog und zerrte mit unglaublicher Kraft an meinem Bein, und ich spürte, wie ich unbarmherzig von meinem Balken herabgezerrt wurde. Mein rechter Fuß schien in Flammen zu stehen. Der Gestank von brennendem Stoff und verkohltem Fleisch erfüllte die Luft.
Plötzlich hörte ich einen Schrei. Irgendwo über mir polterte etwas, dann wurde die Tür mit einem Tritt aufgesprengt, und eine geduckte Gestalt erschien in der Öffnung.
»Hilfe!« brüllte ich. »Schnell doch - helfen Sie mir!«
Mit dem Mut der Verzweiflung löste ich eine Hand von meinem Halt, streckte sie in seine Richtung aus und spürte, wie mich der Tentakel ein weiteres Stück herunterzerrte. Das Schmatzen und Saugen unter mir klang plötzlich lauter und gieriger.
Aber der Fremde dachte nicht daran, meine ausgestreckte Hand zu ergreifen. Statt dessen fuhr er herum, stürzte davon und verschwand für eine schreckliche, endlose Sekunde aus meinem Sichtfeld. Dann tauchte er wieder auf, klammerte sich mit der linken Hand am Türrahmen fest und beugte sich vor. Ein schwarzer Schlangenarm zuckte in seine Richtung und versuchte sich um seine Beine zu wickeln.
Der Fremde ignorierte ihn. Seine andere Hand schleuderte irgend etwas Kleines, Graues in die Tiefe.
Eine halbe Sekunde lang geschah gar nichts. Dann lief ein spürbares Zittern durch das Gebäude. Grauer, übelriechender Dampf schoß wie ein Geysir aus der Tiefe und nahm mir den Atem, und der Gestank von verkohltem Fleisch wurde unerträglich. Der Schlangenarm löste sich mit einer zuckenden Bewegung von meinem Bein und verschmolz mit dem grauschwarzen Brodeln, in das sich die Masse verwandelt hatte.
Ich hustete. Meine Kräfte schwanden. Ich spürte noch, wie sich meine Hand langsam vom Holz des Balkens löste, und glaubte zu sehen, wie der Fremde mit einem erschrockenen Ächzen vorsprang und nach meinem Arm griff.
Dann verlor ich endgültig das Bewußtsein.
Jemand machte sich schmerzhaft an meiner Hand zu schaffen, als ich erwachte.
Ich blinzelte, versuchte mich aufzusetzen und gleichzeitig meine Hand zurückzuziehen, damit der grausame Schmerz aufhörte, schaffte aber weder das eine noch das andere. Eine Hand stieß mich mit sanfter Gewalt zurück, und eine andere hielt mein rechtes Handgelenk behutsam, aber mit großer Kraft fest. Ein dumpfer, pochender Schmerz wühlte im Rhythmus meines Herzschlages zwischen meinen Schläfen.
»Halten Sie still«, sagte eine Stimme. »Es dauert nur noch einen Moment.«
Ich gehorchte, biß die Zähne zusammen, als sich ein neuer, dünner Schmerz in meinen Arm bohrte, und öffnete die Augen.
Ich lag auf dem Bett meines Zimmers. Der Fensterladen war geöffnet worden, und das Sonnenlicht stach unangenehm grell in meine Augen. So konnte ich die Gestalt, die neben mir auf der Bettkante saß, im ersten Moment nur als verschwommenen Schatten gegen das Fenster ausmachen.
Der Schmerz in meiner Hand erlosch plötzlich, und auch das Hämmern hinter meiner Stirn sank auf ein erträgliches Maß herab. Die wirbelnden Schleier vor meinem Blick lichteten sich.
Der Mann ließ meinen Arm los, setzte sich auf und lächelte. Und jetzt erkannte ich ihn auch.
Es war der Unbekannte, der im letzten Moment aufgetaucht war und mich aus dem Schacht gezogen hatte. Sein blondes, fast schulterlanges Haar und das schmalgeschnittene Gesicht waren das letzte gewesen, was ich wahrnahm, ehe mir die Sinne schwanden.
Noch einmal versuchte ich mich aufzusetzen, und diesmal hinderte mich mein Retter nicht daran.
»Sie ... Sie haben mir das Leben gerettet«, sagte ich, verwirrt und mit einem Male wieder von einer leisen Spur von Furcht erfüllt. Im gleichen Maße, in dem der dumpfe Druck aus meinem Schädel wich, kehrten die Erinnerungen zurück.
Unwillkürlich wandte ich den Kopf und blickte zur Badezimmertür hinüber. Sie war wieder geschlossen, aber der breite, gesplitterte Riß in ihrem Holz schien mich wie ein höhnisches Maul anzugrinsen. Ein eisiger Schauer lief über meinen Rücken.
Der Fremde war meinem Blick gefolgt, und als ich ihn wieder ansah, entdeckte ich eine sonderbare Mischung aus Freundlichkeit und Sorge in seinen Augen.
Überhaupt wirkte er sehr sanft, fand ich. Sein Gesicht war zart wie das eines Mädchens, und der Blick seiner Augen war sehr weich. Im ersten Moment schätzte ich ihn auf einen Knaben von siebzehn, vielleicht achtzehn Jahren. Dann gewahrte ich die dünnen Linien um seinen Mund und die Augen und sah, daß er älter war. Zwanzig, vielleicht zweiundzwanzig.
Plötzlich wurde mir bewußt, daß ich ihn anstarrte. Verlegen senkte ich den Blick und schwang die Beine vom Bett. Meine Muskeln reagierten mit einem wütenden Bombardement kleiner, stechender Schmerzen auf die plötzliche Bewegung.
Mein Blick streifte den verbrannten Saum meines rechten Hosenbeines, und der Anblick ließ die Erinnerung an einen grausamen Schmerz und den Gestank verschmorten Fleisches in mir aufsteigen.
Erschrocken beugte ich mich vor, zog das Hosenbein hoch und sah mein Bein an.
Die Haut unter dem verkohlten Stoff war unverletzt und rosig wie die eines Neugeborenen.
Einen Moment lang starrte ich das unglaubliche Bild an, dann fuhr ich hoch, hob mit einem Ruck die rechte Hand vor die Augen und drehte sie ungläubig.
Auf meiner Handwurzel war eine dünne, rote Linie zu sehen, weniger als ein Kratzer. Von der Wunde, die der Holzsplitter in mein Fleisch gerissen hatte, war nichts mehr geblieben.
Ungläubig ließ ich die Hand sinken und starrte meinen Retter an. »Was ... was haben Sie ... getan?« keuchte ich.
Ein rasches, fast amüsiertes Lächeln huschte über die Züge meines Gegenübers. »Nichts, worüber Sie erschrecken müßten«, sagte er. »Sie waren ziemlich übel verletzt. Ich mußte Ihnen helfen.«
»Aber das ...« Ich brach ab, starrte abwechselnd meine Hand und das Bein an und schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber das ist doch unmöglich!« keuchte ich. »Das ist ein Wunder!«
»Mit dem Wort sollte man vorsichtig sein«, sagte mein Retter, und in seiner Stimme war ein sonderbarer Ernst, den ich mir nicht erklären konnte. »Ich habe nichts getan, was nicht zu erklären wäre. Aber es wäre zu kompliziert, würde ich es jetzt versuchen. Sind Sie fremd hier in der Stadt?«