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»Wer ist was?« fragte ich betont.

Shannon starrte mich aus geweiteten Augen an. »Sie sind alle so, nicht?« Plötzlich fuhr er herum, sprang mit einem Satz auf den bewußtlosen Wolfmann zu und erstarrte. Er sagte kein Wort, aber ich wußte, was er sah: ein Bündel glänzender, pulsierender Spinnfäden, die mit dem Nacken des bedauernswerten Geschöpfes verschmolzen, ebenso wie mit dem Curds, Lowrys - und zahlloser anderer. Jedes männlichen Einwohners von Innsmouth.

»Nein«, stammelte er. »Nicht ... nicht das. Nicht ...«

Ich streckte die Hand nach ihm aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern starrte ihn nur mit wachsender Verwirrung an. »Was ist los, Shannon?« fragte ich. »Was hast du?«

»Er hat endlich erkannt, daß sie ihn belogen haben, Robert«, sagte eine Stimme hinter mir. Eine Stimme, die ich kannte.

Die Stimme meines Vaters!

Er stand hinter mir, eine dunkle, halb transparente Gestalt wie ein Schatten; groß, schlank und mit einem sanften Odem von Düsternis und Trauer umgeben wie immer, wenn er aus dem Reich der Toten zu mir sprach.

Aber nicht nur ich hatte seine Stimme gehört; auch Shannon war aus seiner Erstarrung erwacht und herumgefahren. Seine Augen weiteten sich, als er den dunkelhaarigen Mann mit der weißen Strähne im Haar erblickte.

Der gleichen Strähne, die auch ich hatte, wenn ich mir die Farbe aus dem Haar wusch.

»Robert?« flüsterte er ungläubig. Sein Blick flackerte. Für einen Moment starrte er mich an, mit einem Ausdruck solchen Entsetzens, daß ich instinktiv einen Schritt zurückwich.

»Robert!« wiederholte er. »Soll das heißen, du ...«

»Ich bin nicht der, den du töten solltest, Shannon«, sagte Andara sanft. Sein Blick war ernst, aber die Härte, mit der er Shannon am Tage zuvor betrachtet hatte, war daraus verschwunden. Vor vierundzwanzig Stunden hatte er Shannon töten wollen, aber jetzt war alles, was ich in seinen Augen las, ein tiefes, ehrliches Bedauern. »Ich habe dir gesagt, daß du hierherkommen sollst, um die Wahrheit zu erfahren«, fuhr er fort.

Shannon atmete hörbar ein. Seine Stimme zitterte so stark, als kämpfe er mit aller Macht dagegen an, nicht loszuschreien. »Sie sind ... Andara«, sagte er. »Roderick Andara. Der ... der Magier.«

»Ja, Shannon«, sagte ich anstelle Andaras. »Dieser Mann ist mein Vater. Du hast den falschen verfolgt. Ich bin Robert Craven.«

Der Ort lag wie ausgestorben vor uns, als wir das Haus verließen. Ein kalter Wind ließ Staub und trockene Blätter tanzen. Nirgends rührte sich auch nur die geringste Spur von Leben; selbst die Häuser wirkten tot.

Und über dem Ort schwebte das Netz.

Shannon hatte wieder meine rechte Hand berührt, und ich sah durch seine Augen. Und ich spürte einen ganz schwachen Hauch des Entsetzens, das den jungen Magier beim Anblick dieses bizarren pulsierenden Gespinstes ergriffen hatte.

Wie hatte er es genannt? Den Seelenfresser? Der Klang dieses Wortes allein reichte aus, mir einen eisigen Schauer über den Rücken zu jagen.

Das Netz schwebte wie eine grausilberne, leuchtende Wolke über den Dächern der Stadt, schwerelos und scheinbar unberührt von den Böen, mit denen der Wind den Staub durch die Straßen jagte.

An zahllosen Stellen senkten sich schlanke, schlauchartige Gebilde aus der pulsierenden Wolke herab und verschmolzen mit den Häusern, um sich in ihrem Innern wieder aufzuspalten und mit unsichtbaren Armen nach den Menschen zu tasten, die sie bewohnten ...

»Dort!«

Shannons Hand deutete nach Osten, zum entgegengesetzten Ortsrand. Das Gespinst verdichtete sich dort, und das Leuchten der grausilbernen Masse flammte wie ein Ball aus unheiligem bösem Licht. Unter seinem Zentrum befand sich ein kleines, einzeln stehendes Haus, durch Tausende pulsierender, zuckender Lichtfäden mit der brodelnden Wolke über Innsmouth verbunden. Was immer dieses Gebilde beherrschte und lenkte, mußte in diesem Haus sein.

Langsam gingen wir los. Wir waren allein - Rowlf hatte das Haus vor uns verlassen und war gegangen, um Howard zu befreien, und auch die Geistergestalt meines Vaters war wieder verschwunden, aber erst, nachdem Shannon und er sich lange, endlose Minuten lang angestarrt hatten. Und sie hatten - auf eine Weise, die selbst mir rätselhaft geblieben war - miteinander geredet. Ich wußte nicht, worüber, aber Shannon wirkte wie ein Mann, der innerlich zerbrochen war, als die Gestalt Andaras schließlich in die Schatten zurückkehrte, aus der sie gekommen war. Seither hatte er kaum mehr ein Wort gesprochen.

Der Wind wurde nicht nur scheinbar stärker, als wir uns dem Haus näherten. Die Wolke begann zu brodeln, grelle Lichterscheinungen zuckten durch das bizarre Gebilde aus Licht und gestaltgewordenem Entsetzen. Und mit einem Male kam ein Sturm auf, ein eisiger, brüllender Höllensturm, der wie mit unsichtbaren Händen an unseren Kleidern und Haaren riß. Winzige Lichtbälle lösten sich wie feurige weiße Sterne aus dem Netz, rasten funkensprühend auf uns herab und erloschen, wenige Meter, ehe sie Shannon oder mich erreichen konnten.

Shannon führte mich mit sich wie ein willenloses Kind. Es war allein seine Macht, die uns vor dem Sturm und den flammenden Energiebällen schützte; das ungeheure Potential an Energie, das in diesem so sanft erscheinenden Jungen schlummerte und das ich bisher allerhöchstens geahnt, aber nicht wirklich erkannt hatte.

Der Sturm erlosch so plötzlich, wie er entstanden war, als wir das Haus erreichten. Ein schwerfälliges, von Tausenden kleiner, gleißender Lichtblitze begleitetes Zucken lief durch die lebende Wolke, und mit einem Male wurde es still, unheimlich still. Shannon ließ meine Hand los, atmete hörbar aus - und trat die Tür des kleinen Hauses mit einem einzigen kraftvollen Tritt ein.

Ich zog meinen Stockdegen, als wir nebeneinander in die Hütte traten. Die Waffe fühlte sich kalt und tot in meiner Hand an, und irgend etwas sagte mir, daß sie mich trotz ihrer magischen Macht gegen diesen Gegner nicht schützen konnte.

Im ersten Moment erkannte ich nichts, denn mit Shannons Berührung waren auch die Bilder erloschen, die ich durch seine Augen sah. Dann glaubte ich Schatten zu sehen; dünne, grauflackernde Linien, die die Luft in scheinbar sinnlosen Mustern durchzogen.

Und plötzlich stand Ayres vor uns. Die Schemen teilten sich wie ein unsichtbarer Vorhang, und die alte Frau trat hervor, schmalschultrig und gebückt, wie ich sie kannte, aber um fünfzig Jahre verjüngt.

Ich unterdrückte im letzten Augenblick einen Schrei, als ich sie ansah. Es war die gleiche, bizarr verzerrte Teufelsfratze, in die ich schon einmal geblickt hatte - aber es war ein Gesicht, das ich kannte! Ich hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen! Diesen Ausdruck von Grausamkeit und Härte, die unstillbare Gier in ihren Augen, die nur durch den Anblick von Tod und Leid gestillt werden konnte. Es war mehr als ein Jahr her, und ich war bis zu diesem Augenblick der Meinung gewesen, sie endgültig besiegt und vertrieben zu haben. Es war das Gesicht der Hexe, die von Priscylla Besitz ergriffen hatte ...

»Lyssa!«

Ein dünnes, grausam-überhebliches Lächeln verzerrte den Mund der Hexe. Ihre Augen blitzten spöttisch. »Ich fühle mich geehrt, Robert«, sagte sie höhnisch. »Ich hätte nicht gedacht, daß du mich wiedererkennst.«

Ich schrie auf und wollte mich auf die Hexe stürzen, aber Shannon riß mich mit einer harten Bewegung zurück, schlug mir den Degen aus der Hand und gab mir einen Stoß vor die Brust, der mich haltlos gegen die Wand taumeln ließ. Dann - noch ehe ich irgendwie reagieren konnte - fuhr er wieder herum, trat der Hexe entgegen und blieb einen halben Meter vor ihr stehen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.

»Du!« flüsterte er mit bebender Stimme. »Ich ... ich wollte es nicht glauben. Ich habe mich geweigert, es zu glauben, selbst als ich den Seelenfresser erkannt habe. Du!« Das letzte Wort klang wie ein Schrei. Ein verzweifelter Schrei.