Lyssa nickte. Ihr Blick war kalt, aber in das spöttische Glitzern ihrer Augen hatte sich eine ganz leise Spur von Unsicherheit geschlichen. »Was mischst du dich ein, Shannon? Wir dienen dem gleichen Herrn, vergiß das nicht. Du hattest von Necron den Auftrag, Andaras Sohn zu töten.«
»Warum?« flüsterte Shannon.
»Warum?« Lyssa lachte meckernd. »Warum was, Shannon? Andara hat -«
»Du weißt, was ich meine, Lyssa«, unterbrach Shannon sie mit bebender Stimme. »Der ... der Seelenfresser. Die Menschen hier mögen glauben, was du ihnen erzählt hast, aber du und ich wissen, daß nicht einmal Andara die Macht hat, dieses Ungeheuer heraufzubeschwören. Du bist von allen die einzige, die ihn beherrschen kann. Du hast ihn hierher gerufen, und du warst es, der die Männer von Innsmouth in seinen Bann brachte. Warum, Lyssa?«
Lyssas Blick wurde hart. »Als Strafe«, sagte sie. »Andara floh hierher, nachdem er unsere Sache verraten und so vielen von uns den Tod gebracht hat. Hast du das vergessen?«
»Nein«, keuchte Shannon. »Aber warum Innsmouth? Warum das Leben so vieler Unschuldiger?«
»Niemand ist unschuldig«, erklärte Lyssa ungeduldig. »Sie haben ihn versteckt und sich damit auf seine Seite gestellt, gegen uns. Sie wurden bestraft. So einfach ist das.«
»So einfach?« keuchte Shannon. »Du ... du sprichst über unendliches Leid, das ihr über Generationen gebracht habt, und -«
»Du wirst sentimental, Shannon«, unterbrach ihn Lyssa kalt. »Ich habe immer gesagt, daß du zu weich bist. Niemand ist unschuldig, der sich gegen uns stellt. Sie haben dem Hexer Unterschlupf gewährt, und sie zahlen den Preis dafür.« Ihre Augen wurden schmal. »Ihr Schicksal sollte dir eine Warnung sein, Shannon. Auch du hast versagt. Du solltest Cravens Sohn töten - statt dessen hilfst du ihm. Sieh dich um und denke darüber nach, was denen geschieht, die sich unserem Willen nicht beugen, ehe du endgültig die Seiten wechselst.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich das nicht schon getan habe«, murmelte Shannon.
Lyssa starrte ihn an. »Du ... verrätst uns?« fragte sie lauernd.
Shannon schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Verraten kann man nur eine Sache, zu der man einmal gehört hat, Lyssa. Und das, was ich hier gesehen habe, ist nicht meine Seite. Sie war es niemals.«
»Du hast einen Eid geschworen«, sagte Lyssa.
»Ja. Ich habe geschworen, unserem Orden und dem Meister zu dienen und die wahre Macht zu schützen. Ich habe niemals geschworen, Unrecht zu begehen. Und ich habe nicht geschworen, Unschuldige zu quälen.«
Zwei, drei Sekunden lang starrte Lyssa ihn schweigend an. Der Ausdruck von Unsicherheit in ihrem Blick wuchs. »Was bedeutet das?« fragte sie schließlich.
»Du weißt, was ich meine«, antwortete Shannon. Plötzlich war seine Stimme ganz kalt. Zorn und Unsicherheit waren daraus verschwunden. »Ruf ihn zurück«, sagte er. »Schick diese Bestie wieder dorthin, wo sie hergekommen ist. Nimm den Fluch von Innsmouth!«
»Und wenn ich es nicht tue?« fragte Lyssa lauernd.
»Dann töte ich dich«, antwortete Shannon.
»Du tötest mich?« Lyssa lächelte. »Wie interessant. Und wie willst du das anfangen, du kleiner Narr?«
Shannon antwortete nicht. Langsam hob er die Arme, streckte beide Hände in Lyssas Richtung aus und murmelte etwas. Ich konnte nicht erkennen, was geschah, aber Lyssa taumelte mit einem überraschten Keuchen zurück, prallte gegen den Tisch und fand im letzten Augenblick ihr Gleichgewicht wieder.
Aber Shannons Angriff hatte sie nur überrascht, nicht wirklich in Gefahr gebracht. Blitzartig wirbelte sie herum, stieß ein fast tierhaftes Kreischen aus und machte eine komplizierte, rasche Bewegung mit der Rechten.
Ein Zucken schien durch die Wirklichkeit zu gehen. Die Welt verbog und kräuselte sich auf unmögliche Weise, und für einen zeitlosen Moment glaubte ich in eine andere, fürchterliche Realität zu blicken. Ich sah den Blitz tödlicher magischer Energien, der aus dem Nichts herabzuckte und Shannon einhüllte, und für einen noch kürzeren Moment sah ich, wie Lyssas wirkliche Gestalt war.
Der Anblick brachte mich fast an den Rand des Wahnsinns.
Ich schrie auf, riß meinen Stockdegen vom Boden hoch und stürzte an Shannon vorbei, blind vor Entsetzen und Angst. Lyssa wirbelte herum und versuchte, meinen Hieb abzufangen, aber die Bewegung kam den Bruchteil einer Sekunde zu spät; der rasiermesserscharfe Stahl riß eine lange, blutige Schramme in ihre Schulter.
Die Hexe brüllte vor Wut, schlug nach meinem Arm und prellte mir die Waffe aus der Hand. Und abermals glaubte ich ein rasches, unglaublich machtvolles Vibrieren der Wirklichkeit zu spüren, als sie die phantastischen Kräfte entfesselte, über die sie gebot; Kräfte, die selbst die Shannons um ein Hundertfaches überstiegen.
Und diesmal galt der Angriff mir.
Es war wie der Hieb eines zornigen Gottes. Eine unsichtbare Titanenfaust traf meine Brust, riß mich von den Füßen und schleuderte mich vier, fünf Meter weit durch die Luft. Ich prallte gegen die Wand, spürte einen zweiten, noch härteren Schlag und versuchte zu schreien. Ich brachte keinen Ton hervor. Die unsichtbare Gigantenhand griff erneut zu, packte meinen Körper aus allen Richtungen zugleich und begann das Leben aus mir herauszupressen.
Ich fiel nach hinten, sank kraftlos an der Wand entlang zu Boden und sah wie durch einen wogenden roten Schleier, wie sich Lyssa wieder Shannon zuwandte. Ein Netz grauer, flackernder Schatten hüllte den jungen Magier plötzlich ein; dünne Fäden wie die des Seelenfressers, fein wie Haar und von pulsierendem Leben erfüllt. Shannon taumelte, schlug hilflos mit den Händen um sich und sank mit einem keuchenden Laut auf die Knie. Das Netz begann sich dichter um ihn zusammenzuziehen.
Lyssa lachte. »Du bist ein Narr, Shannon!« kreischte sie. »Ein ebenso großer Narr wie Craven, wenn du glaubst, mich besiegen zu können. Du bist stark, aber lange nicht stark genug. Und jetzt bezahlst du den Preis für den Verrat. Ich werde tun, was du nicht vollbracht hast. Ich werde den Sohn des Magiers vernichten! Aber zuvor soll er noch sehen, wie es denen ergeht, die sich gegen uns stellen!«
Sie machte eine befehlende Bewegung mit der Rechten, und das Netz zog sich weiter zusammen. Wie eine tausendfingrige tödliche Hand begann es sich um den jungen Magier zu schließen, zwang ihn auf die Knie und weiter herunter, begann seine Kleider zu durchschneiden.
Und dann ...
Für einen winzigen Moment war es, als flackere Shannons Gestalt. Seine Umrisse verdoppelten sich, und plötzlich schien sein Körper an Substanz zu verlieren und dünn und schwerelos wie Rauch zu werden.
Das magische Netz erschlaffte, fiel durch seinen Körper hindurch und blieb zuckend auf dem Boden liegen.
Lyssa schrie auf, riß erschrocken die Hände vor den Mund. Ihre Augen schienen vor Entsetzen aus den Höhlen zu quellen.
Vor ihr stand nicht mehr Shannon, sondern ein schlanker Mann mit schwarzem Vollbart, dunklem Haar und einer gezackten weißen Strähne über der linken Braue.
»Andara!« rief sie.
Eine endlose Sekunde lang starrte Roderick Andara die Hexe wortlos an, dann nickte er, hob den Arm und berührte sie beinahe sanft an der Schulter. Lyssa kreischte, fiel nach hinten und krümmte sich auf dem Boden.
»Ja, Lyssa«, sagte er. »Ich bin es. Endlich sehen wir uns wieder. Ich habe lange auf diesen Augenblick gewartet. Zweihundert Jahre. Komm - bringen wir zu Ende, was du begonnen hast.«
Lyssa stemmte sich taumelnd hoch, starrte den Magier an und machte wieder jene eigenartigen, beschwörenden Gesten mit den Händen. Aber diesmal spürte ich, wie ihre Kräfte von einer anderen, viel machtvolleren Gewalt aufgefangen und zurückgeschleudert wurden. Sie taumelte. Ihr Kreischen klang plötzlich ängstlich, und das Flackern in ihrem Blick wurde mehr und mehr zu nackter Panik.