Die Züge der beiden Männer waren nicht zu erkennen. Ein Streifen des dunklen Tuches, das in der Art eines Turbans um ihre Köpfe geschlungen war, verhüllte auch ihre Gesichter. Trotzdem gewahrte der Alte den Schrecken in ihren Augen, als sie das Blut auf seinem Hals sahen. Aber keiner von beiden gab auch nur einen Laut von sich.
Die beiden Männer gehörten zu den wenigen Privilegierten, denen der Zugang zum innersten Bereich der Drachenfestung gestattet war. Sie dienten ihm seit Jahren treu und ergeben; wie alle seine Anhänger hätten sie mit Freude ihr Leben für ihn gegeben.
»Kommt mit«, sagte Necron. Seine Stimme stand in krassem Gegensatz zu seinem Äußeren. Er sah aus wie ein uralter Mann, aber seine Stimme war jung und befehlsgewohnt, und seine Bewegungen waren voller Kraft und Energie. Rasch wandte er sich um und ging mit weit ausgreifenden Schritten den fensterlosen Korridor entlang.
An seinem Ende blieben die beiden Krieger stehen, während der Alte eine niedrige, metallbeschlagene Tür öffnete. »Holt Raoul«, befahl er dann.
Schweigend entfernten sich die Krieger, um seinen Befehl auszuführen, während der Alte vollends durch die Tür trat und unschlüssig auf und ab zu gehen begann.
Das Zimmer unterschied sich drastisch von der kahlen Felsenkammer, in der er aufgewacht war. Es war warm; man spürte die Hitze des brennenden Steines, der tief im Fels unter der Festung brodelte. Die Wände verbargen sich hinter Bahnen schweren, schwarzen Stoffes, und der Boden war mit wertvollen Teppichen, Fellen und Stoffballen bedeckt.
In der gegenüberliegenden Wand war eine Tür; niedrig, aus schweren, geschwärzten Bohlen gefertigt und mit vergoldeten Beschlägen und Ziernägeln versehen. Wo das Schloß sein sollte, prangte ein bizarres Symbol, das auf geheimnisvolle Weise in Bewegung zu sein schien. Fast, als lebe es.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis draußen auf dem Gang Schritte laut wurden und die Krieger zurückkamen. In ihrer Begleitung befand sich ein schmalschultriger, kleiner Mann mit schwarzem Haar und verschlagenen Augen, unter denen dunkle Tränensäcke hingen. Ein dünner Oberlippenbart versuchte vergeblich, seinem Gesicht einen Zug von männlicher Härte zu verleihen. Der Mann hatte Ähnlichkeit mit einer Ratte.
»Herr!« Raoul senkte den Blick, verbeugte sich tief und erschrak sichtlich, als er das Blut auf Necrons Gewand sah. »Ihr seid verletzt, Herr!«
Necron machte eine rasche, unwillige Geste. »Das spielt jetzt keine Rolle, Raoul«, sagte er. »Ich gehe fort. Solange ich nicht hier bin, wirst du für die Sicherheit der Festung verantwortlich sein.«
»Ihr ... geht fort?« vergewisserte sich Raoul. Seine Stimme bebte, und seine Hände vollführten kleine nervöse Bewegungen. »Aber Ihr seid doch gerade erst ...«
»Ich muß es tun«, unterbrach ihn Necron. »Ich habe herausgefunden, wo sich der Sohn des Magiers versteckt hält. Ich werde gehen und tun, was der Eid, den unsere Ahnen abgelegt haben, verlangt. Andaras Sohn muß sterben.«
»Aber das ... Ihr könnt einen anderen schicken!« sagte Raoul zögernd. »Es ist gefährlich, Herr -«
»Einen anderen?« Necron lächelte humorlos. »Einen wie Shannon, Raoul?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe einmal den Fehler gemacht, Robert Craven zu unterschätzen.« Er schwieg einen Moment, um seinen Worten das gehörige Gewicht zu verleihen, straffte dann seine Gestalt und deutete auf die goldbeschlagene Tür am anderen Ende des Raumes. »Ich muß selbst gehen«, sagte er noch einmal.
Raouls Blick huschte nervös über die Tür. Er schluckte ein paarmal. Seine Furcht war nicht mehr zu übersehen. Aber es war nicht die Furcht vor Necron oder der Macht, die er darstellte, es war die Angst vor dem, was hinter dieser Tür lauerte.
»Ihr wollt ... allein gehen?« fragte er stockend. Sein Adamsapfel hüpfte hektisch auf und ab.
»Nicht ganz allein«, erwiderte Necron. »Zehn deiner tapfersten Männer werden mich begleiten. Du wirst sie auswählen, während ich die nötigen ... Vorbereitungen treffe.«
»Nur zehn?« entfuhr es Raoul. »Wäre es nicht besser, wenn ...«
»Nur zehn«, unterbrach ihn Necron. »Und nun geh. Geh und suche die besten Krieger aus, die du hast. Ich erwarte sie in einer Stunde hier.«
Raoul nickte demütig, senkte das Haupt und entfernte sich, rückwärts gehend und von den beiden stummen Kriegern flankiert. Aber kurz, bevor er den Raum verließ, sah er noch einmal auf, und was er erblickte, ließ ihn erbleichen.
Necron hatte sich umgewandt und die Hände in einer beschwörenden Geste gegen die Tür ausgestreckt.
Das formlose Ding, das dort anstelle eines Schlosses hing, hatte angefangen zu pulsieren.
Es schlägt, dachte Raoul schaudernd. Es schlägt wie ein gewaltiges pulsierendes Herz ...
Den ganzen Vormittag über war es nicht richtig hell geworden. Ein grauer Nebel lag über der Stadt, und wie immer, wenn man ungeduldig darauf wartete, daß die Zeit verging, schienen die Minuten zäh wie Sirup zu verstreichen.
Gestern nacht erst war ich nach einer vierwöchigen Schiffspassage und einer Tagesreise von Southampton in London eingetroffen. Nach den schrecklichen Vorfällen in Innsmouth mußte ich Priscylla einfach wiedersehen. Der Geist der Hexe Lyssa, der lange ihren Körper beherrscht hatte, war von meinem Vater endgültig vernichtet worden.
Es war nicht leicht gewesen, Howard zu dieser Rückkehr zu bewegen, aber nicht umsonst besaß ich eine außergewöhnliche Überzeugungskraft. Schließlich willigte er ein, ließ es sich jedoch nicht nehmen, mir drei Tage vorauszureisen, um, wie er sagte, alles für meine Ankunft vorzubereiten.
Shannon und Rowlf blieben in Arkham zurück. Shannon hatte sich in sein Zimmer in der Universität zurückgezogen und wollte keinen Menschen sehen. Ich konnte ihn gut verstehen - zuviel war in den letzten Tagen auf ihn eingestürmt. Er brauchte Zeit, nachzudenken und mit seinen Zweifeln und Ängsten fertig zu werden. Rowlf hatte versprochen, gut auf ihn achtzugeben.
Ich war einen Tag zu früh in London eingetroffen; ein günstiger Wind hatte das Segelschiff, mit dem ich die Reise angetreten hatte, schneller als geplant den Atlantik überqueren lassen.
So hatte ich die Nacht in einem Hotel verbracht, ohne Howard zu Gesicht zu bekommen. Statt dessen war im Morgengrauen Dr. Gray aufgetaucht, der Arzt, der Priscylla während ihrer »Krankheit« betreut hatte, ein guter Freund von Howard.
Pri war in London! Doch meine Vorfreude auf unser Wiedersehen wurde allzuschnell gedämpft. Dr. Gray hatte mich den ganzen Vormittag über durch - wie es mir schien - sämtliche Londoner Behörden geschleppt. Howard und er hatten alles vorbereitet, alle Papiere besorgt, die nötig waren, mich endgültig zum rechtmäßigen Erben meines Vaters zu machen. So hatte ich Stunde um Stunde Unmengen von Unterschriften geleistet, tausend Verbeugungen vor kleinlichen Beamten machen und hunderttausend dumme Fragen beantworten müssen.
Ein Trost blieb mir - wenn erst alle juristischen Belange geklärt waren (und erst dann) war ich auch für die engstirnigen britischen Behörden der Sohn Roderick Andaras.
Als Magier wurde mein Vater selbstverständlich in keiner Kartei geführt, wohl aber als recht begüterter Staatsbürger.
Draußen auf den Straßen Londons schmolz der letzte Schnee, als Dr. Gray und ich das königlich-britische Gesundheitsamt verließen und wieder in der Kutsche Platz nahmen. Die weiße Decke, die sich über der Stadt ausgebreitet hatte, war zu einem Flickenteppich aus Nässe und braunem Matsch geschmolzen. Der Winter hatte nicht enden wollen in diesem Jahr, aber an diesem 15. Mai 1885 schien er endlich besiegt.
Ich fror.
Die Kleider, die ich trug, fühlten sich feucht und klamm an, obwohl ich sie erst am Morgen aus dem Koffer genommen hatte. Nicht einmal das mächtige Feuer, das die ganze Nacht über im Kamin des Hotelzimmers brannte, hatte die klamme Kälte vollends vertreiben können.