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Vielleicht würde ihm Craven entgehen, aber das spielte keine Rolle. Er hatte zweihundert Jahre auf diesen Tag gewartet - welche Rolle spielten da ein paar Tage oder Wochen?

Aber er würde das Buch bekommen. Noch heute.

Doch dafür mußte er den Sohn des Hexers noch vor dem GROSSEN ALTEN finden. Nur Craven selbst wußte, wo das NECRONOMICON versteckt lag. Nein, er würde Craven nicht töten. Er würde ihm sein armseliges Leben lassen, für Cthulhu. Aber er würde sich das Buch holen.

Und wenn er es hatte, dachte er, die Worte des GROSSEN ALTEN in Gedanken wiederholend, dann würde er sich den Rest der Welt dazu nehmen. Dann gab es niemanden mehr, den er noch fürchten mußte.

Nicht einmal die GROSSEN ALTEN selbst.

Das Zimmer lag im obersten Stockwerk des Hauses, unmittelbar unter dem Dach. Eine breite Marmortreppe hatte uns in die zweite Etage geführt, dann hatten wir eine versteckte Tapetentür durchschritten und waren über eine weitere, diesmal hölzerne Treppe hier hinauf unter das Dach gestiegen, wo das Haus nicht mehr von Symbolen des Reichtums und Wohlstandes strotzte (was mir äußerst angenehm auffiel). Doch alles wirkte frisch und ordentlich, als wäre es erst vor wenigen Tagen renoviert worden. In der Luft hing noch der Geruch von Farbe und Leim, alles war hell und freundlich - im Grunde fühlte ich mich hier wohler als unten.

Aber trotz der hellen Farben und der fröhlich gemusterten Tapeten und Vorhänge entgingen mir nicht die Gitter vor den Fenstern, so wenig wie die Türen, die ein ganz kleines bißchen zu solide wirkten. Die Schlösser hätten sogar einen talentierten Einbrecher vor erhebliche Probleme gestellt. Und die dicken Teppiche und Vorhänge dienten hier nicht mehr dem Prestige, sondern der Schallisolierung. Das Dachgeschoß war ein Gefängnis. Ein schalldichtes Gefängnis.

Mein Herz begann wie rasend zu klopfen, als ich die Hand auf den Türknauf legte und ihn zögernd drehte. Ich wußte, wen ich dahinter treffen würde, auch wenn Howard bisher nichts als sinistre Andeutungen gemacht hatte.

Priscylla saß auf ihrem Bett, als wir den Raum betraten, halb aufrecht und von einem Kissen gestützt, das Gesicht zum Fenster gewandt, aber mit geschlossenen Augen. Eine ältliche, grauhaarige Frau saß auf einem Stuhl neben ihr und las in einem Buch. Als wir eintraten, klappte sie es zu, legte einen Finger auf die Lippen und kam uns mit lautlosen Schritten entgegen.

Es dauerte einen Moment, bis ich sie erkannte.

»Mary!«

Ich hatte Mrs. Winden damals in Durness kennengelernt, als Howard, Rowlf und ich einem Dämon gegenüberstanden, der von einem ganzen Wald Besitz ergriffen hatte.

Mrs. Winden schüttelte mißbilligend den Kopf ob meiner Lautstärke, lächelte aber gleich darauf und deutete mit einer übertrieben pantomimischen Bewegung hinter sich. Ich erkannte eine nur angelehnte Tür, die in einen zweiten, hell erleuchteten Raum führte. Sie bedeutete Howard und mir mit Gesten, ihr zu folgen, und ging auf Zehenspitzen an Priscyllas Bett vorbei.

Mein Blick streifte Pris Gesicht, und ich blieb unwillkürlich stehen. Ein seltsames, beklemmendes Gefühl machte sich in mir breit, als ich das schlafende Mädchen betrachtete.

Sie schien mir schöner als je zuvor, obwohl die Ereignisse, die sie durchgestanden hatte, tiefe Spuren in ihrem Antlitz hinterlassen hatten. Trotzdem war sie die schönste Frau der Welt.

Wenigstens für mich.

Meine Gedanken eilten zurück zu dem Tag, an dem ich sie das erste Mal gesehen hatte. Ich glaube, ich habe sie von der ersten Sekunde an geliebt, und nichts von dem, was danach geschah, hat irgend etwas daran ändern können. Sie war wie ich als Waise aufgewachsen; in einem kleinen Fischerdorf an der schottischen Küste.

Und kaum daß ich sie kennengelernt hatte, wollte sie mich umbringen.

Natürlich nicht sie selbst. Ihr Körper, sicher - aber nicht sie. Nicht die Priscylla, die ich kennen- und liebengelernt hatte. Das Mädchen, dessen Dolch ich an meiner Kehle gespürt hatte, war eine andere gewesen. Eine Hexe namens Lyssa, die vor zweihundert Jahren gestorben war und deren Geist über den Abgrund der Zeit hinweg vom Körper dieses unschuldigen Wesens Besitz ergriffen hatte.

Howard ist vom ersten Tag an etwas anderer Meinung über diesen Punkt gewesen, aber ich weiß, daß die wirkliche Priscylla ein zartes, sanftmütiges Wesen voller Liebe und Zärtlichkeit war.

Und ich würde sie heilen. Howard und Dr. Gray hatten vergeblich versucht, sie aus dem Zustand der Verwirrung zu reißen, in den ihr Geist nach der Vernichtung der Hexe versunken war, aber mir würde es gelingen. Ich wußte es. Vielleicht würde es all meine Macht, das ganze magische Erbe meines Vaters kosten. Aber ich würde sie heilen.

Eine Hand legte sich auf meine Schulter. »Kommen Sie, Mister Craven«, sagte Mrs. Winden leise, um Priscylla nicht aufzuwecken. »Gehen wir nach nebenan. Dort können wir reden.«

Ich nickte und folgte ihr - wenn auch widerstrebend - in das angrenzende Zimmer.

Mary schloß die Tür und drehte sich mit einem befreiten Lächeln zu mir um. »Mister Craven!« sagte sie. »Wie schön, daß Sie endlich da sind. Wir haben schon ungeduldig auf Sie gewartet. Besonders Priscylla.«

»Wie geht es ihr?« fragte ich.

»Gut«, antwortete Mrs. Winden. »Sie schläft viel, aber manchmal, wenn sie erwacht, ist sie vollkommen klar, und ...« Sie brach ab, starrte mich einen Moment betroffen an und murmelte: »Verzeihung.«

»Schon gut.« Ich versuchte, so gelassen wie möglich zu klingen, aber ganz gelang es mir nicht.

»Es tut mir leid, Mister Craven«, sagte sie niedergeschlagen. »Ich wollte Sie nicht -«

»Es ist gut, Mary«, unterbrach sie Howard. »Es wird Zeit, daß sich Robert an die Wahrheit gewöhnt.«

Ich fuhr herum und starrte ihn zornig an. Aber ich schwieg, obwohl alles in mir zu brodeln schien. Er hatte ja recht. Und er konnte nichts dafür, daß meine Gefühle nicht nach Recht oder Unrecht fragen.

»Es geht ihr wirklich gut, Mister Craven«, fuhr Mary fort. »Dr. Gray untersucht sie jeden Tag, und sie hat sogar schon nach Ihnen gefragt.«

Die letzte Behauptung war eine Lüge, und es hätte nicht einmal meines magischen Talentes, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden, bedurft, um das zu spüren.

»Es ist gut, Mrs. Winden«, sagte ich sanft. »Ich verstehe. Aber hören Sie auf, mich ›Mister Craven‹ zu nennen, bitte. Mein Name ist Robert.«

»Nur, wenn Sie mich Mary nennen«, antwortete sie. »Ich fühle mich um fünfzig Jahre älter, wenn mich jemand mit ›Mrs. Winden‹ anredet.«

Diesmal war mein Lachen echt.

»In Ordnung ... Mary«, antwortete ich. Ich wollte noch mehr sagen, aber wieder unterbrach uns Howard.

»Vielleicht lassen Sie uns einen Moment allein, Mary«, sagte er. Ich blickte überrascht auf und sah ihn fragend an, aber Mary nickte gehorsam und verließ das Zimmer, noch ehe ich Gelegenheit fand, sie zurückzuhalten.

»Was soll das?« fragte ich scharf, als wir allein waren. »Warum schickst du sie hinaus?«

»Weil ich mit dir zu reden habe«, antwortete Howard.

»Reden? Worüber?«

»Über Priscylla«, sagte Howard ernst. »Und über dich. Setz dich bitte.«

Ich gehorchte, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Das unmerkliche Zögern in seinen Worten war mir nicht entgangen.

»Was soll mit Priscylla sein?« fragte ich scharf. »Sie ist hier, und ich werde mich um sie kümmern.«

»Und du glaubst wirklich, du könntest es? Du glaubst, du hättest die Chance, etwas zu vollbringen, was Dr. Gray, einer der besten Spezialisten des Landes, vergebens versucht hat?«

»Das glaube ich«, antwortete ich zornig. »Du selbst hast mir doch immer wieder erklärt, daß ich ein Magier bin, oder? Magie hat sie krank gemacht, und Magie wird sie heilen. Ich werde ihr helfen, Howard, und wenn es den Rest meines Lebens in Anspruch nehmen sollte.«