Howard blinzelte. »Ist mit dir alles in Ordnung?« fragte er ruhig.
Ich nickte wütend, setzte zu einer neuerlichen scharfen Antwort an und schüttelte dann doch den Kopf. Welchen Sinn hatte es, Howard zu belügen?
»Nein«, sagte ich. »Nichts ist in Ordnung, Howard. Du hast Mary gehört. Ich ... hatte gehofft, daß sich ihr Zustand bessert, jetzt, wo Lyssa vernichtet ist. Aber ich muß es einfach versuchen.«
»Du fühlst dich schuldig«, behauptete Howard. »Du denkst, es wäre deine Schuld, und jetzt versuchst du es wieder gutzumachen.«
»Ist es denn nicht so?« fragte ich leise.
»Nein, verdammt noch mal!« schnappte Howard. »Dieses Mädchen war von Lyssas Geist besessen, lange bevor du aufgetaucht bist. Sie haben sie nur auf dich angesetzt, weil du zufällig so närrisch warst, dich in sie zu verlieben, das ist alles. Wie lange, glaubst du, haben sich die Ärzte in der Anstalt um sie gekümmert?«
Es war eine rhetorische Frage, auf die er keine Antwort erwartete. Trotzdem antwortete ich.
»Über ein Jahr.«
»Aber es hat sich nichts geändert.«
»Nein«, gestand ich niedergeschlagen. »Nichts. Ihr Zustand ist unverändert. Sie ist ruhig und manchmal sogar ansprechbar, aber sie ist noch immer ... noch immer ...«
»Geistesgestört«, sagte Howard, als ich nicht weitersprach.
Ich hätte ihm die Faust ins Gesicht schlagen können, für dieses Wort. Es war nicht wahr. Ich wußte es, und Howard wußte es. Priscyllas Verstand war nur verwirrt. Sie war so lange eine Gefangene in ihrem eigenen Körper gewesen, daß sie den Weg zurück in die Wirklichkeit nicht mehr fand. Nun war der Dämon in ihr gebannt. Doch ihr Selbst, die echte, wahre Priscylla, das Mädchen, das ich liebte, hatte sich noch immer noch nicht aus den Spinnweben lösen können, in die finstere Mächte ihren Geist verstrickt hatten.
»Sie ist nicht geistesgestört«, sagte ich leise.
»Es ist mir egal, wie du es nennst«, sagte Howard grob. »Ich habe diese Reise mitgemacht, weil die Hoffnung bestand, es hätte sich etwas geändert. Aber es ist alles beim alten geblieben. Sie kann nicht hierbleiben, das weißt du. Nicht in diesem Haus. Nicht einmal in dieser Stadt.«
»Sie stellt keine Gefahr mehr dar!« behauptete ich.
»Doch, Robert«, widersprach Howard. »Im Moment vielleicht noch nicht. Aber glaube mir, ich habe sie eingehend untersucht. Mehr als einmal. Sie könnte wieder zu dem werden, was sie war. Die Hexe in ihr ist tot, aber ihr Geist ist vergiftet.«
»Du stellst unsere Freundschaft auf eine harte Probe«, sagte ich leise.
Howard ignorierte meine Worte. »Du weißt sehr gut, daß ich recht habe«, sagte er. Sein Blick wurde hart. »Du liebst sie noch immer, nicht wahr?«
Ich antwortete nicht. Es war auch nicht nötig.
»Bist du wirklich sicher, daß du sie liebst?« fragte Howard nach einer Weile. Er hob die Hand und machte eine besänftigende Geste, als ich schon wieder auffahren wollte. »Überlege dir deine Antwort gut, Robert. Ich verstehe deine Gefühle, aber ... bist du sicher, daß es nicht doch nur Mitleid ist?«
Diesmal blieb ich ihm die Antwort schuldig, wandte nur mit einem Ruck den Kopf und starrte die Tür an, hinter der Priscyllas Zimmer lag. Meine Augen brannten. Es war nicht das erste Mal, daß ich diese Frage hörte. Ich hatte sie mir selbst gestellt in den letzten Monaten, immer und immer wieder.
Aber ich hatte nie eine Antwort gefunden.
»Schon gut, Junge«, sagte Howard, als ihm die Bedeutung meines anhaltenden Schweigens klar wurde. »Ich wollte keine alten Wunden aufreißen. Aber wir sollten darüber reden. Später.«
Priscylla schlief noch immer, als wir das Zimmer durchquerten und wieder auf den Korridor hinaustraten. Howard schloß die Tür und lächelte mir noch einmal ebenso aufmunternd wie falsch zu.
»Der Lunch ist unten im Salon vorbereitet«, sagte er, während wir die Treppe zur Tapetentür hinabstiegen. »Aber vorher muß ich dir noch etwas sagen. Wir -«
Der Rest seiner Worte ging in einem dunklen, unglaublich machtvollen Dröhnen unter.
Ich hatte das Gefühl, das Haus unter meinen Füßen erheben zu fühlen. Fast wäre ich die Treppe hinuntergestürzt. Ein zweiter, lang hallender Schlag folgte, dann ein dritter, vierter - es war das gleiche, unheimliche Dröhnen, das ich schon draußen vor dem Haus gehört hatte, ein Schlagen wie von einem gigantischen, dunklen Gong, der mich zurücktaumeln und vor Schmerz aufstöhnen ließ, selbst, als der fürchterliche Laut endlich mit einem letzten, vibrierenden Nachhall endete.
Howard blinzelte verwirrt, als ich die Hände von den Schläfen nahm. »Was ist los, Robert?« fragte er. In seiner Stimme klang echte Verwunderung.
Ich starrte ihn an. »Das ... das Läuten«, stotterte ich. »Du mußt es doch gehört haben.« Ich stockte und sah ihn fassungslos an. »Du hast ... nichts gehört?« fragte ich.
Howard verneinte. »Nichts. Wovon zum Teufel sprichst du?«
Ich antwortete nicht. Vorhin, als er mich begrüßt hatte, hatte ich noch an einen kindischen Scherz geglaubt, den Gray und er sich zu meiner Begrüßung ausgedacht haben mochten. Aber er sagte die Wahrheit - er hatte wirklich nichts gehört!
»Ich muß mich geirrt haben«, murmelte ich verstört. »Entschuldige, Howard. Ich bin übermüdet, glaube ich.«
Howards Blick war jetzt eindeutig besorgt. »Ich begreife das nicht«, murmelte Howard. »Was war das für ein Geräusch, das du gehört hast?«
»Eine Art Glockenschlag«, sagte ich. »Ich habe dasselbe unten vor dem Haus schon einmal gehört. Aber ich dachte, Gray und du würden sich einen Scherz mit mir erlauben.«
»Einen Scherz?« Howard runzelte die Stirn. »Du solltest mich eigentlich besser kennen, Junge.«
»Howard, was geschieht hier?« fragte ich leise. »Was stimmt nicht mit diesem Haus? Diese Geräusche ... was hat das alles zu bedeuten?«
»Das weiß ich so wenig wie du, Robert«, antwortete Howard. »Ich wollte, ich wüßte es.« Er schüttelte abermals den Kopf, wandte sich um - und erstarrte.
Hinter uns stand ein Mann.
Er war sehr groß, schlank und in ein sackähnliches braungraues Gewand gekleidet. Sein Gesicht verbarg sich hinter einer Art Turban aus schwarzem Tuch, der nur einen schmalen Streifen über den Augen freiließ. Und in seiner Hand blitzte ein gewaltiges, zweischneidiges Schwert!
Der Fremde schien durch unseren Anblick ebenso überrascht zu sein wie wir durch den seinen - aber er reagierte mit beinahe menschlicher Schnelligkeit. Sein Schwert blitzte auf und beschrieb einen tödlichen, engen Halbkreis auf Howard zu.
Mit einer verzweifelten Bewegung trat ich Howard in die Kniekehlen. Er sank mit einem überraschten Keuchen zurück, und die Klinge verfehlte ihn um Millimeter, aber der Fremde griff bereits wieder an!
Seine Waffe zuckte in einer unglaublichen schnellen Bewegung auf Howard herab, traf ihn mit der Breitseite vor die Schläfe und ließ ihn halb benommen zu Boden sinken. Sofort kam die Klinge wieder hoch und stieß - reichlich ungezielt diesmal - auf mich zu.
Verzweifelt warf ich mich zurück. Das Schwert hämmerte wenige Zentimeter neben meinem Gesicht in das Holz und riß Splitter aus dem Türrahmen. Ich sprang auf, trat nach dem Schwert und hieb gleichzeitig nach dem Fremden.
Der doppelte Angriff war zuviel für ihn. Mein Tritt reichte nicht aus, ihm die Waffe aus der Hand zu prellen, aber meine Faust traf sein Kinn, und der Hieb war hart genug, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und zurücktaumeln zu lassen.
Er war nicht wirklich schwer getroffen. In den Jahren, die ich in den New Yorker Slums gelebt habe, mußte ich genug Kämpfe überstehen, um zu erkennen, wann ein Feind wirklich getroffen ist und wann nicht - dieser Mann war es nicht. Mein Schlag hatte ihn nur überrascht, und er war - wenn überhaupt - allerhöchstens benommen.