Howard seufzte, trank einen Schluck Kaffee und sah mich über den Rand seiner Tasse hinweg prüfend an. »Wo ist es?« fragte er.
Etwas an der Art, in der er die Frage stellte, störte mich. Ich setzte zu einer Antwort an, biß mir aber statt dessen nur auf die Zungenspitze und schüttelte stur den Kopf. »Nein«, sagte ich. »Das wird niemand erfahren. Nicht einmal du, Howard. Es ist zu gefährlich.«
»Aber -«
»Es tut mir leid«, sagte ich, so scharf, daß er unwillkürlich die Tasse senkte und mich stirnrunzelnd ansah; beinahe erschrocken.
»Ich habe geschworen, dieses Buch nie wieder anzurühren, und ich werde diesen Schwur halten«, sagte ich. »Ich weiß, was geschieht, wenn ich es berühre.«
»Aber du weißt nicht, was geschieht, wenn du es nicht tust!« fuhr Howard auf. Dr. Gray warf ihm einen raschen, warnenden Blick zu. Howard atmete hörbar ein.
»Robert«, sagte Gray. »Ich -«
»Es hat keinen Zweck, wenn Sie versuchen, mich zu überreden, Doktor«, sagte ich. »Dieses Buch ist zu gefährlich. Ich bin Howard und Ihnen dankbar für die Warnung, aber das, was gerade geschehen ist, bestärkt mich noch in meinem Entschluß. Niemand wird erfahren, wo es ist.«
»Ich könnte dich zwingen, es mir zu geben, Robert«, sagte Howard leise.
Fassungslos starrte ich ihn an, suchte einen Moment nach Worten und stand schließlich mit einem Ruck auf.
Howard schien zu bemerken, daß er mit seinen Worten über das Ziel hinausgeschossen war. Hastig erhob er sich ebenfalls und trat um den Tisch herum auf mich zu. »Es tut mir leid, Robert«, sagte er. »Ich habe mich hinreißen lassen. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Verzeih mir.«
Zum ersten Mal, seit ich Howard wiedergesehen hatte, spürte ich seine Unsicherheit. Er wirkte ruhig und gelöst wie immer, aber Howard war ein Mensch, der auch dann noch voller Heiterkeit lächeln würde, wenn man ihn an Händen und Füßen gefesselt von der Tower Bridge warf. In Wirklichkeit, das spürte ich plötzlich, war er mehr als nur nervös.
Er war verzweifelt.
Und halb verrückt vor Furcht.
Trotzdem ignorierte ich seine ausgestreckte Hand, wandte mich mit einem Ruck um und stürmte aus dem Zimmer.
Mit einem Male hatte ich Angst vor ihm.
Vor einer Stunde war es dunkel geworden, und nachdem wir - Howard, Dr. Gray und ich - unten im Salon ein hastiges Abendessen eingenommen hatten, war es im Haus rasch still geworden. Auch ich verspürte Müdigkeit wie eine unsichtbare Last, die an meinen Gliedern zerrte. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und ich war seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen - eigentlich wäre es das Klügste gewesen, Howards Beispiel zu folgen und zu Bett zu gehen.
Aber ich wußte, daß ich keinen Schlaf gefunden hätte. Zu viele Dinge gingen mir durch den Kopf, und die Welt, die heute morgen noch halbwegs in Ordnung gewesen war, war plötzlich gründlich durcheinandergewirbelt worden.
Ich wußte nicht, was mich mehr verwirrte - dieses sonderbare, verhexte Haus, in dem Kronleuchter von der Decke fielen, Türen zu tödlichen Schafotts und Treppen zu mörderischen Fallgruben wurden - oder Howards sonderbares Verhalten.
Er schien wie ausgewechselt. Zuerst war mir sein Benehmen nicht aufgefallen, und dann hatten sich die Ereignisse zu sehr überschlagen, als daß ich überhaupt Gelegenheit gehabt hätte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber - war der Mann, mit dem ich gerade zusammen gegessen hatte, wirklich noch Howard! Nicht, daß ich an seiner Identität zweifelte, nein - aber war er noch der Howard, den ich kannte? Und wenn ja, was mochte geschehen sein, ihn so zu verändern?
Natürlich fand ich keine Antwort auf diese Frage, aber das Gefühl von Unsicherheit und Verwirrung blieb und wurde nur schlimmer. Schließlich versuchte ich mich dazu zu zwingen, an etwas anderes zu denken, drehte den Knauf des Stockdegens in meinen Händen, sah auf meine Uhr und verglich ihre Anzeige mit dem Zifferblatt der monströsen Standuhr, die die Ecke neben dem Kamin beherrschte.
Howard hatte auf meine Frage, was es mit dieser Uhr auf sich hatte, nur mit einem Achselzucken geantwortet, und auch die Diener, die ich gefragt hatte, hatten mir nicht mehr sagen können, als daß sie schon immer hier gestanden hatte.
Die Uhr war ein Monstrum, in jeder Beziehung - so alt, daß das Holz an gewissen Stellen schon anfing, hart und grau wie Stein zu werden, und mit drei zusätzlichen kleinen Zifferblättern, die ein ungleichmäßiges Dreieck unter der großen, normalen, Anzeige bildeten. Was sie anzeigten, wußte kein Mensch - auf jeden Fall nicht die Zeit. Eines hatte drei Zeiger, das zweite überhaupt keine, und auf dem dritten drehten sich drei kleine spiralige Scheiben, daß es einem schwindelte, wenn man zu lange hinsah.
Die Uhr war ungefähr das geschmackloseste Möbelstück, das ich jemals gesehen hatte - und ich habe eine Menge Dinge zu Gesicht bekommen -, aber irgend etwas hatte meinen Vater wohl stets davon abgehalten, sie wegzuwerfen und den Platz besser zu nutzen. Das große Uhrwerk hinter dem Zifferblatt zeigte immerhin pünktlich die Uhrzeit an.
Ich betrachtete die chronographische Mißgeburt noch einen Moment, lehnte meinen Stockdegen gegen den Kaminsims und ging zum Fenster. Es war kurz nach acht, und das Leben draußen auf den Straßen schien mit Einbruch der Dämmerung vollends erstorben zu sein. Hinter den Fenstern der Häuser flackerte Licht, und im Süden war das glitzernde Band der Themse wie eine schwarze Schlucht im Lichtermeer der Stadt zu erkennen. Ein Bild von täuschendem Frieden.
Der Angriff kam so überraschend, daß meine Reaktion um Haaresbreite zu spät gekommen wäre.
Ein Schatten wuchs hinter mir auf und spiegelte sich verzerrt in der Scheibe vor meinem Gesicht, dann zischte etwas durch die Luft, verfehlte meine Schläfe um Millimeter und schlug mit solcher Wucht gegen den Kaminsims, daß Funken aus dem Stein stoben. Ich prallte zurück, glitt auf einem Läufer aus und fiel.
Der Sturz rettete mir das Leben. Ein silberner Blitz fuhr durch die Luft, dort, wo ich vor Sekundenbruchteilen noch gestanden hatte.
Das Schwert hämmerte dumpf mit der Breitseite auf den Parkettboden, kam wieder hoch und beschrieb einen kompliziert aussehenden Bogen - und zuckte wie eine angreifende Kobra auf mich herab!
Ich reagierte, ohne zu denken. Ich hatte gelernt, fair zu kämpfen, selbst wenn es um Leben und Tod ging, aber erstens ist es nicht gerade fair, einen Unbewaffneten mit einem meterlangen Schwert anzugreifen, und zweitens waren meinen Instinkten meine antrainierten Skrupel herzlich egal. Meine Hand krallte sich in den Läufer und zog mit einem kurzen, harten Ruck daran.
Der Angreifer verlor das Gleichgewicht, hing einen Moment in einer fast unmöglichen Schräglage mit wild rudernden Armen in der Luft und krachte schließlich schwer zu Boden.
Diesmal war ich eine Winzigkeit schneller als er.
Wir kamen beinahe gleichzeitig auf die Beine, aber als er sich hochstemmte und sein Schwert aufhob, war ich bereits heran und versetzte ihm einen gezielten Tritt.
Der Angreifer keuchte, blieb eine Sekunde reglos auf den Knien hocken - und fiel benommen zur Seite.
Hastig hob ich sein Schwert auf und legte es auf den Kaminsims, wo es erst einmal außer Reichweite war, dann öffnete ich die Schublade des Schreibtisches, von der ich wußte, daß sie eine Waffe enthielt, nahm den Revolver hervor und kontrollierte sorgfältig die Trommel. Erst dann drehte ich mich wieder zu meinem ungebetenen Besucher herum.
Der Kerl mußte einen Schädel aus Granit haben, denn er stemmte sich bereits wieder auf Hände und Knie hoch und sah zu mir herüber - wenn auch noch aus leicht verschleiert wirkenden Augen.
Ich hatte erst jetzt Gelegenheit, ihn näher in Augenschein zu nehmen. Es war alles zu schnell gegangen, als daß ich ihn deutlicher denn als schwarzen Schatten erkannt hätte - aber viel mehr vermochte ich auch jetzt noch nicht zu sehen.