Nebeneinander gingen wir los. Die Sonne war höher gestiegen und brannte auf die Hügel Neu-Englands herab, aber mir war trotzdem kalt. Ich bemerkte, daß auch Shannon die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatte und mit angezogenen Schultern und leicht vornüber gebeugt ging, als friere er. Es war, als kröche etwas aus den Schatten heraus in unsere Seelen und ließ sie erstarren. Shannon hob immer wieder den Blick und sah sich rasch und fast gehetzt nach beiden Seiten um. Er wirkte nervös.
»Ist es weit bis zur Universität?« fragte ich; weniger aus wirklicher Neugier, als vielmehr, um überhaupt etwas zu sagen.
»Zwei, drei Meilen«, antwortete Shannon nach kurzem Überlegen. »Jedenfalls sagt das der Portier.« Er grinste.
»Hoffentlich ist er nicht so bösartig wie der, an den Sie heute morgen geraten sind, Jeff.«
Ich blickte ihn mit einer Mischung aus Trauer und Betroffenheit an. »Sie glauben mir immer noch nicht, wie?«
Shannon zuckte mit den Achseln. »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht«, antwortete er. »Sie sind ... seltsam, Jeff. Normalerweise weiß ich immer sofort, mit wem ich es zu tun habe. Bei Ihnen stehe ich vor einem Rätsel.«
»Danke, gleichfalls«, erwiderte ich. »Aber trotzdem - warum lassen wir nicht das alberne Sie! Immerhin haben wir einige Gemeinsamkeiten.«
Shannon nickte. »Gerne, Jeff. Aber trotzdem: Ihre - deine - Geschichte gefällt mir nicht besonders. Wie bist du überhaupt in dieses Haus geraten?«
»Ich habe das Hotel gesucht. Wenn ich jemanden um Auskunft hätte fragen können ... aber die Stadt war ja wie tot.«
Shannon lachte heiser. »Arkham ist keine ... normale Stadt, weißt du?« sagte er. »Ich bin zum ersten Mal hier, aber ich habe schon viel über diese Stadt gehört. Und ihre Bewohner.«
»Und was?« erkundigte ich mich.
Shannon schwieg einen Moment, und ich spürte, daß es ihm bereits leid tat, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben. »Dies und das«, sagte er schließlich ausweichend. »Fremde meiden die Stadt, und ihre Einwohner sind nicht beliebt. Und sie ihrerseits mögen keine Fremden.«
Er blieb plötzlich stehen und deutete nach rechts. Direkt vor uns gabelte sich die Straße in einen breiten, gut gepflasterten Fahrweg und eine schmale Nebenstraße, die nach wenigen Dutzend Schritten vor einem hölzernen Landungssteg endete. Ich hatte bisher nicht einmal bemerkt, daß wir uns dem Fluß genähert hatten.
»Der Miscatonic River«, erklärte Shannon. »Die Universität liegt am anderen Ufer, noch eine gute Meile entfernt. Aber es ist kürzer, wenn wir ihn hier bereits überschreiten. Dort unten liegt ein Boot, das jedermann benutzen darf - so lange er es in ordentlichem Zustand zurückgibt.«
Für einen Mann, der zum ersten Mal in Arkham war, wußte er eine ganze Menge, fand ich. Aber ich schwieg auch diesmal, nickte nur und folgte ihm zum Fluß hinab.
Der Miscatonic war breiter, als ich geglaubt hatte. Auf der Karte, die ich während der dreiwöchigen Schiffspassage von England nach Nordamerika studiert hatte, war er nicht mehr als ein dünner, kaum erkennbarer Strich gewesen - jetzt offenbarte er sich als gewaltiger, beinahe eine halbe Meile breiter Strom, dessen Fluten mit erstaunlicher Geschwindigkeit dahinflossen. Ein machtvolles Rauschen schlug uns entgegen, und als ich auf den Steg hinaustrat, sah ich, daß seine Oberfläche hier und da gekräuselt war; wie von Strudeln oder Felsen, die sich dicht darunter verbargen.
Ein kühler, leicht modrig riechender Hauch schlug uns von der Wasseroberfläche entgegen. Dicht neben dem Steg schaukelte ein kleines, nicht sehr vertrauenerweckendes Ruderboot auf den Wellen.
Shannon sprang ohne ein weiteres Wort in das Boot hinab. Er balancierte einen Moment lang mit gespreizten Beinen und ausgebreiteten Armen die Erschütterung aus und winkte mir grinsend, ihm zu folgen. In diesem Moment erschien er mir mehr denn je wie ein großer, fröhlicher Junge.
Und gleichzeitig spürte ich deutlicher denn je, daß sich hinter seinem mädchenhaft zarten Kindergesicht ein Geheimnis verbarg.
Vielleicht ein tödliches Geheimnis.
Ich folgte ihm - weit weniger elegant, aber dafür sicherer -, nahm auf der Bank ihm gegenüber Platz und griff wortlos nach einem der beiden Ruder. Shannon ergriff das andere und löste das Haltetau.
Die Strömung erwies sich als stärker, als ich geglaubt hatte, und sofort brauchten wir unseren ganzen Atem, um das Boot vorwärts zu rudern und nicht allzuweit vom Kurs abgetrieben zu werden.
Ich war froh, nicht mit Shannon reden zu müssen. Insgeheim zerbrach ich mir bereits den Kopf darüber, wie ich verhindern konnte, daß Shannon meine wahre Identität erfuhr, sobald wir die Miscatonic-Universität erreicht hatten.
Irgend etwas sagte mir, daß es wichtig für mich war, mich Shannon gegenüber nicht zu erkennen zu geben. Vielleicht lebenswichtig.
Shannon war verwirrt. Zum ersten Mal in seinem Leben war er einem Menschen begegnet - mit Ausnahme des Meisters selbst -, den er nicht durchschauen konnte.
Er hatte es versucht, immer und immer wieder, am Morgen, während er Jeff dabei half, seine Kleider in die Koffer zu stopfen, vorher, als er bewußtlos auf dem Bett gelegen hatte, und auch hinterher, während sie nebeneinander durch die stillen Straßen Arkhams gingen.
Das Ergebnis war stets das gleiche gewesen.
Nichts.
Es war, als pralle er gegen eine unsichtbare Wand, jedesmal, wenn er versuchte, in Jeffs Geist einzutauchen, hinter seine Stirn zu sehen und zu erkennen, wer dieser Mann wirklich war.
Einen Moment lang hatte er gar geargwöhnt, daß es der sein könne, nach dem er suchen sollte. Aber dieser Gedanke war absurd, und er verwarf ihn im gleichen Moment wieder, in dem er ihm gekommen war. Jeff war viel zu jung, und die Beschreibung, die ihm der Meister gegeben hatte, war ...
Auch das war etwas Sonderbares. Shannon hatte noch nie in seinem Leben etwas vergessen. Er erinnerte sich an jeden Augenblick, jedes Wort, das er jemals mit jemandem gewechselt hatte, jedes Buch, jede Zeile, die er gelesen, ja, jeden Gedanken, den er jemals gedacht hatte. All dieses Wissen war da, bereit, daß er nach ihm griff und sich seiner bediente.
An die Beschreibung von Roderick Andaras Sohn konnte er sich nicht erinnern.
Jedesmal wenn er es versuchte, schien eine unsichtbare Hand durch sein Denken zu fahren und das Bild fortzuwischen, als wache irgend etwas eifersüchtig über seine Gedanken und verhindere, daß sie in eine bestimmte Richtung gingen.
Aber selbst dieser Gedanke entglitt ihm, ehe er ihn richtig fassen oder auch nur wirklich mißtrauisch werden konnte.
Das Boot hatte mittlerweile die Mitte des Flusses erreicht. Die Strömung wurde stärker, und für eine Weile bedurfte es Shannons ganzer Konzentration, sich gegen die Ruder zu stemmen und der Strömung Widerstand zu leisten.
Er bemerkte die Gefahr beinahe zu spät.
Etwas Körperloses, Eisiges schien wie kalter Wind über den Fluß zu streifen, und dann verspürte er einen scharfen Schmerz, wie einen Stich in seinen Gedanken.
Shannon fuhr auf, ließ das Ruder fahren und drehte mit einem Ruck den Kopf.
Auf dem gegenüberliegenden Ufer des Miscatonic war eine Gestalt erschienen. Der Mann war zu weit entfernt, als daß Shannon Einzelheiten erkennen konnte, aber er schien auf erschreckende Weise düster und bedrohlich. An seinem Kopf war etwas Helles, das Shannon nicht genau identifizieren konnte, das ihn aber vage an etwas erinnerte.
Shannon hob die Hand, murmelte ein Wort der MACHT und schloß für eine halbe Sekunde die Augen.
Als er die Lider wieder hob, hatte sich die Welt vor ihm verändert. Sie war zu einem schwarzweißen Negativbild geworden, durchzogen von grauen, pulsierenden Linien wie in einem gigantischen Spinnennetz. Hier und da ballten sich diese Linien, bildeten Knoten und pulsierende graue Nester - und eines dieser Machtzentren lag direkt über dem Fremden mit dem sonderbar hellen Haar!